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Analyse

Vinicius Junior: Konsequent ronaldinhoesk?

,,Der Ball ist meine Freundin“ – 2006 beschrieb sich Ronaldinho Gaucho mit dieser Aussage trefflich selbst. Der Brasilianer verzückte während seiner Blütezeit in Mailand und Barcelona die Zuschauer in einer Art und Weise, von der sich viele sicher waren: Sie ist einzigartig. Ronaldinho und der Ball schienen tatsächlich eine Art besonderes Verhältnis zu haben, denn scheinbar keinem anderen Fußballspieler gelang es, den Ball so anhänglich zu machen, wie es Ronaldinho tat, und niemand brachte den Ball zu solch spektakulären Liebesbeweisen wie Ronaldinho. Neben vielen historischen Ereignissen aus seiner Karriere, die sich aus Fansicht harmonisch fügten (exemplarisch der Applaus der Madrider Fans beim El Clasico) sowie Ronaldinhos stets authentisch-glücklichen, optimistischen Auftreten war es sicherlich aber auch sein Spielstil, der letztendlich zum heutigen fast schon verklärten Bild Ronaldinhos führte.
Im Mai 2017, also gut sechs Jahre, nachdem sich Ronaldinho aus dem europäischen Fußball verabschiedet hatte, gab Real Madrid bekannt, dass Vinicius Junior spätestens 2019 in die spanische Hauptstadt wechseln wird. Ein Spieler, dessen Auftreten auf dem Platz allzu frappierend an Ronaldinho erinnert – eine Analyse.

Frühe Umfeldstabilität als Erfolgsfaktor

Paixão de Oliveira Júnior Vinícius José – so der korrekte Name Vinicius – wurde am 12.07.2000 in Sao Goncalo, einer riesigen Kommune in der Metropolregion Rio de Janeiros geboren. Er wuchs in einer Gegend auf, die vom Umbruch ergriffen war und ist: Rapides Bevölkerungswachstum, ein im brasilianischen Vergleich äußerst multinationales und -kulturelles Umfeld, extrem hohe Armutsquote. Bereits mit fünf Jahren spielte Vinicus für Flamengo Rio de Janeiro und erschuf sich so in einer dynamischen Umwelt sehr früh eine Konstante, durch die er sich von da an stetig entwickeln sollte. Zehn Jahre später debütierte er für Brasiliens U15-Nationalmannschaft, schoss sechs Tore in sechs Spielen. Kein Jahr nach seinem Debüt stand er für die U17 Brasiliens auf dem Platz, die Bilanz dort: 15 Spiele, zwölf Tore, wobei Vinicius ausschließlich auf der linken offensiven Seite zum Einsatz kam. Am 13. Mai. 2017, kurz bevor Vinicius Transfer zu Real Madrid öffentlich gemacht wurde, debütierte er mit 16 Jahren für die Profimannschaft von Flamengo. Ein halbes Jahr später steht er bei 21 Partien und drei Toren – nicht lange, nachdem er das siebzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist der Mittelfeldspieler also zu einem festen Bestandteil des Profikaders geworden.

Unberechenbar effektiv

Mit 1,76 Metern ist Vinicius nicht besonders groß, aber auch nicht klein, verfügt jedoch über ein bemerkenswertes Staturmerkmal. Sein Körperbau wirkt ein wenig untersetzt, seine Beine scheinen verhältnismäßig kurz. Sein Trainer Reinaldo Rueda bescheinigt ihm ,,enorme physische Stärke“, gemeint sein dürfte damit Vinicius Kompaktheit, die auch von den kurzen Beinen bedingt ist. Vinicius Erscheinungsbild ist ganz und gar nicht das eines Sprinters, doch man vermutet bereits eine hohe Beweglichkeit und vor allem die der Effektivität dieser zugrundeliegende Reaktionsschnelligkeit. Woher diese Vermutung exakt rührt, ist schwer zu sagen, doch der tiefe Körperschwerpunkt und die sehr aufrechte, gespannte Körperhaltung Vinicius dürften ein Hauptgrund sein. Abgesehen von den anatomischen Hintergründen ist Vinicius Profit aus diesen Voraussetzungen auf dem Platz erstaunlich. Vermutlich unbewusst nutzt er seine hervorragenden koordinativen Fähigkeiten, vor allem um zu fintieren. Das besondere Merkmal hierbei ist ein extrem schneller Bewegungsablauf sowie eine sehr hohe Bewegungsbeschleunigung, was zu einem nicht mehr flüssigen, sondern abgehakten Erscheinungsbild führt, Vinicius wirkt bisweilen, als würde er seine unteren Extremitäten willentlich “schnalzen“ lassen. Anschaunlich ist eine Videosequenz aus dem YouTube-Video, welches unter diesem Link für etwa fünf Sekunden einen gelupften “Elastico“ Vinicius zeigt. Auch abgesehen von diesem Beispiel verfolgt der 17-Jährige auf dem Platz einen 1vs1-Stil, der von absichtlichen Verzögerungen (und damit die Inkaufnahme von fallenden, hinter den Ball gerückten Gegenspielern) und unerwarteten, abrupten Tempo- und Richtungsänderungen geprägt ist. Wie im oben verlinkten Video ersichtlich führt das zu keinen symmetrischen, geordneten Bewegungsabläufen und verhindert oft sogar effiziente Laufwege. Doch die Effektivität ist durch die Unausrechenbarkeit dieses Stils dennoch gegeben, zudem bescheren die regelmäßig überraschenden und unkonventionellen Bewegungen des Brasilianers ein Aufmerken beim Beobachter, weil dieser etwas zu Augen bekommt, dass er so einfach noch nicht oder sehr selten gesehen hat. Beim handelnden Akteur Vinicius selbst darf man annehmen, dass er durch erfolgreiche Dribblings dieser Art in der Vergangenheit wohl auch einen gewissen Hang zur Selbstdarstellung entwickelt hat und sich gegenwärtig durch aufkommende Reize beim Eintritt in diese auslösende, zu erwähnten symptomatischen Aktionen führende Bewegungen in eine sehr selbstsichere Befindlichkeitslage gibt. Dies ist sicherlich eine Annahme, die für viele Fußballer und Sportler zutrifft und auch mit einer gewissen Automatisierung zusammenhängt, aber bei Vinicius fällt auf, wie sehr er diese Momente sucht, genießt und wie essenziell diese für seine Spielfreude sind. Er scheint hierdurch auch des Öfteren über sich hinauszuwachsen und eine unabhängige, autonome Motivation zu entwickeln. Belegend kann man auch hier Rueda zitieren, der erzählt, dass Vinicius sein Verhalten nach Bekanntgabe des Transfers (und somit dem erstmalig deutlichen Auftauchen von potentiellen Motivationsgründen extrinsischer Natur) nicht im Geringsten verändert hätte. Sein physischen Voraussetzungen, seine technische Umsetzung und seine Geisteshaltung machen ihn also zu einem hervorragenden Einzelspieler – wie sieht es aber im mannschaftstaktischen Kontext aus?

Besonders bei Offensivaktionen ist auffällig, dass Vinicius sehr aufmerksam ist und sich durch ein fleißiges Laufverhalten stets um den besten Laufweg bemüht. Eine gewisse Spielintelligenz lässt sich hier durch das schnelle Erkennen freier Räume ausmachen, die Vinicius nicht immer selbst beläuft, sondern auch für den ballführenden Kollegen freimacht, indem er dessen Laufweg kreuzt und die Zuteilung der Verteidiger stört. Das regelmäßige Erkennen dieser situativ erforderlichen bzw. passenden Mechanismen zeugt wiederum für einen gewissen Fleiß und eine große Aktionsfreude Vinicius. In der Defensive agiert er manchmal sehr unüberlegt, setzt Tacklings zum falschen Zeitpunkt oder versucht aus einem tiefen Mittelfeld- oder situationsbedingten Abwehrpressing zu früh, den Ballführenden zu stellen und riskiert damit Fouls oder eine auseinandergerissene Staffelung. Dass seine Aktionsfreude ihm hier im Alter von 17 Jahren zum Verhängnis wird, ist aber nicht sehr überraschend.

Hält die Liebe länger als beim Vorbild?

Letztendlich ergibt sich das Bild eines äußerst talentierten Spielers, der vermutlich das nötige Mindset hat, um eine große europäische Karriere zu erreichen und zu bestehen. Vinicius wird angesichts der bis zu 61 Millionen Euro umfassenden Ablösesumme bei seiner Ankunft in Spanien sehr im Fokus stehen und der Erwartungshaltung von Medien, Fans und Verein, aber auch und wohl vor allem seiner eigenen gerecht werden müssen. Ronaldinho schaffte das vor vielen Jahren, doch nachdem er alles erreicht hatte, gingen ihm Disziplin und Fleiß schnell verloren, er floh im guten Fußballeralter in die Heimat zurück, mit der Hoffnung, zu alter Stärke zu finden und in die Selecao zurückzukehren. Der junge Vinicius ähnelt dem jungen Ronaldinho bisher enorm, trotzdem ist er noch sehr weit weg von den Erfolgen des Vorbildes. Dennoch sollte er sich bei allen Erfolgen stets daran erinnern, dass die Liebe zum Ball nur von Dauer sein wird, wenn man sich immer darum bemüht.

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Lukas Brandl ist U13-Cheftrainer im NLZ des SV Wacker Burghausen. Der B-Lizenz-Inhaber studiert Bildungswissenschaften und begeistert sich für die Vielschichtigkeit des Fußballs aus Spieler- und Trainerperspektive. Für den dienstältesten Talentkritiker besitzen Individualität und Differenziertheit bei Aspekten der Potentialentfaltung einen hohen Stellenwert.

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