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Analyse

Über Techniktraining und die Bedeutung von Wahrnehmung im Fußball

Es gibt in der Diskussion um gutes Fußballtraining zu jeder Zeit viel Lärm in der Welt der Fußballtrainer, -theoretiker, -analysten und sogar -fans. Dabei finden sich interessante Ansichten, aber auch solche, die nicht fachgerecht sind – mitunter, weil sie auf Meinungen und Methoden beruhen, die einfach als gegeben gelten und nicht mehr hinterfragt werden. Darunter fallen oft Lehren, die sich mit dem Erlernen und Üben von Technik beschäftigen, aber auch mit 1vs1, Dribbling und Spielintelligenz. Dieser Text versucht zu argumentieren, weshalb andere Methoden angebrachter werden – unterstützt wird er davon von der neurowissenschaftlichen Expertise Steffen Tepels (kursive Textanteile), seines Namens höchst erfolgreicher Leistungssportler und Trainer. Es sei an dieser Stelle noch gesagt, dass der Text bestimmt keinen umfänglichen Leitfaden für das Training der entsprechenden Inhalte darstellen kann und soll, er möchte letztendlich nur ausgewählte Ansichten betrachten und eine eigene Meinung dazu argumentativ gestützt kommentieren.

Techniktraining – was, wie und warum?

Warum ist eine gute Technik – also das Vermögen, planvoll, effektiv, harmonisch (und ästhetisch) mit dem Ball umgehen zu können – wichtig im Fußball?
Fußball – als Spiel – ist per Definition ,,eine Tätigkeit, die zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung“ (vgl. Wikipedia) betrieben wird. Zum anderen handelt es sich um einen Sport, und den zeichnet neben dem Spielcharakter noch die ,,Überwindung von willkürlichen Hindernissen, Problemen und Konflikten“ (vgl. Bundesinstitut für Sportwissenschaft) aus.
Technik im Fußball beschäftigt sich genau mit diesen beiden Angelegenheiten: Einerseits will sie Spaß machen, andererseits geht es darum, ein Hindernis – den Ball – möglichst gut zu bewältigen. Eine gute Technik im Fußball ist also eine solche, die den Ball zum Bewegungsanhängsel macht, als Hindernis entschärft und ihn somit kontrollier- und steuerbar macht, und durch diese Beherrschung, die durch den Konkurrenzcharakter des Sports ja relativ zum Gegner geschieht, auch für Spaß sorgt.

Nun könnte man sagen: Wer den Ball als Hindernis beherrschen will, muss sich mit ihm vertraut machen. Und zwar durch intensive Beschäftigung mit ihm, aber unter wechselnden Bedingungen und im integrierten Kontext. Wer eine Sprache anwendungssicher lernen will, muss das auch tun, indem er mit anderen Leuten redet und nicht, indem er nur alleine Vokabeln paukt. Diese Schlussfolgerung stützt auch die Neurowissenschaft:

Aus neurologischer Sicht werden, wann immer eine Trainingsaufgabe ansteht, die viel „Hirnschmalz“ erfordert, sehr viele Areale des Gehirns aktiv. So muss bei neuen Aufgaben wie beispielsweise ungewohnten technischen Bewegungen der Neokortex Höchstarbeit leisten. Auch das Kleinhirn ist dann extrem stark mit Aufgaben der Bewegungskorrektur beschäftigt. Der Thalamus lenkt die volle Konzentration auf die anstehende Aufgabe. Unwichtige, äußere Reize blockt er einfach weg (wenn er richtig arbeitet). Man kann sich sozusagen in der Aufgabe verlieren (was im Endstadium im Flow münden kann). Beim ersten mal klappt die Bewegung – wenn überhaupt – nur “hölzern“. Es kann unsäglich anstrengend sein, neu zu lernen: Vom Erlernen einer Fremdsprache bis hin zu komplexen technischen Skills.

Beim Lernen werden also viele Hirnareale aktiv. Dies bedeutet in der Folge, dass in den Nervenzellen Unmengen Energie in Form von Glukose umgesetzt werden muss. Es ist jedoch evolutionsbiologisch ein höchst riskanter Prozess, zu viel Energie für scheinbar sinnlose Lerninhalte zu verschwenden. Denn die Grundfunktion unseres Gehirns ist auch im digitalisierten Zeitalter immer noch darauf ausgerichtet, Gefahren aus dem Weg zu gehen und die wichtigsten lebenerhaltenden Maßnahmen zu gewährleisten.Woher weiß das Gehirn, wann/dass wir das nächste mal Nahrung finden? Wenn die komplexe technische Lernanforderung in der Priorität des Gehirns relativ weit unten steht, weil dringlichere Sachen zu erledigen sind, dann wird es kaum einen Lernfortschritt geben. Es ist also sehr wichtig, den Kopf ,,frei“ zu bekommen – technisches Lernen muss so gestaltet sein, dass es Spaß macht und für den Erlernenden wichtig ist!

Je nachdem, wie lange und intensiv man sich nun mit dieser Aufgabe beschäftigt und weiterhin wie wichtig/salient es für das Gehirn ist, diese Bewegung zu erlernen, wird der Trainingsfortschritt sichtbar: Die Bewegungen werden flüssiger, zielgerichteter, schneller, exakter. Es wird in diesem Stadium hirnintern jetzt weniger Energie verbraucht, die Aufgabe erfordert weniger Konzentration und läuft neurologisch gesehen mehr zwischen Basalganglien und Kleinhirn ab.  Dieses Prinzip hinterliegt technischen Lernvorgängen ebenso wie solchen strategischer und taktischer Art. Vor eine komplexe und (über)fordernde Lernaufgabe gestellt zu werden, bedeutet aber im ersten Moment auch Stress für das Gehirn. Das macht noch deutlicher, wie wichtig ein harmonisches Lernumfeld ist – metaphorisch dargestellt mit einem überlaufenden Fass:

Dieser Text soll nun einen Grund dafür liefern, dass sich konzentrativ anstrengendes Training sehr wohl lohnt. Es lohnt sich sogar deutlich mehr als dauernd Trainingsinhalte abzuspulen, die der Spieler schon beherrscht und widerspricht somit in aller Deutlichkeit der oft gelehrten Weisheit, gute Technik würde sich durch automatisierendes Einschleiftraining ergeben. Automatisierung – und somit Verlust von Reaktionsfertigkeit und Bewegungspontanität – ist genau das, was gute Technik nicht ausmacht.

Abschließend: Das Gehirn liebt neue Aufgaben – wenn die Energiezufuhr stimmt! Es werden immer mehr Hirnareale hinzugeschaltet, wenn neue Aufgaben im Spiel sind. Darüber hinaus wird durch immer neue Reize auch Lernen als Fähigkeit trainiert! Dies bedeutet, dass Spieler mit mehr Lernerfahrung generell schneller neue Inhalte lernen können.

Warum Dribbel-Training viel mehr ist als Technik- oder Athletiktraining

Man muss feststellen, dass die Königsanwendung der Technik (bzw. zumindest jene, die am auffälligsten ist und am meisten Aufmerksamkeit erregt), also das Dribbling mit Gegner, das Ausdribbeln, eine Disziplin ist, bei der die Ballbeherrschung nicht die einzige Herausforderung ist. Letztendlich geht es darum, an einem Gegner vorbeizulaufen und den Ball dabei mitzunehmen. Das erfordert athletische Komponenten, und natürlich die entsprechende Technik – auf diese beiden Dinge wird das Ausdribbeln letztendlich auch in dieser oberflächlichen Darstellung normalerweise beschränkt, selbst in fortgeschrittenen DFB-Trainerlehrgängen, in denen das ‚AFFE‘-Mantra gepaukt wird, nach welchem der einzige Weg zum offensiven 1vs1 Erfolg die sture Beherrschung von Andribbeln-Fixieren-Fintieren-Explodieren ist. Das ist auch bestimmt nicht an sich falsch, aber eben doch oberflächlich.

Im 1vs1 geht es darum, sein Verhalten so zu planen, dass der Gegner dieses nicht vorhersehen kann und auch mit Spekulation möglichst falsch liegt. Auf höchstem Niveau – oder auch nur: unter komplexeren Umständen als bei einem isolierten 1vs1 – lassen sich hierfür keine Faustregeln mehr aufstellen. Wer die Besten der Besten beobachtet, sieht solche linearen Lösumgswege nur unter klaren und übersichtlichen Umständen – etwa, wenn Cristiano Ronaldo in einer Kontersituation auf Außen angespielt wird, einen isolierten Gegenspieler vor sich hat und dahinter unendlich viel Tiefe. Wer aber könnte Lionel Messi ein Lösungsrezept an die Hand geben, wenn dieser gegen eine kompakte Mannschaft auf engem Raum ein Zuspiel bekommt und mit dem Rücken zum hauptsächlichen Spielgeschehen steht? Oder Paul Pogba, wenn dieser seinen Ball zu lange gehalten hat und von drei Gegenspielern an der Auslinie umzingelt ist? Hier würden die meisten nur noch sagen: Versuch den Ball irgendwie abzulegen, versuch ihn zu klären, zur Not schlag ihn ins aus – aber für eine erfolgreiche Dribbellösung gibt es keine ,,Schulmethode“ mehr, und dazu gehört auch mehr als Technik und Athletik.

Wer Lionel Messi aufmerksam zusieht, erkennt bei ihm sehr deutlich, dass er im Dribbling eigentlich nur reagiert, oder wenn sein Gegner geschickt ist und sich weniger leicht locken lässt, mit einer Provokation eine Aktion des Gegners auslöst und damit eine eigene Reaktion ermöglicht. Andere Spieler machen das auch wie Messi, aber er eben mit am besten und, wie ich denke, auch am bewusstesten. Diese zweite Möglichkeit, also Provokation → Aktion des Gegners → Reaktion wird im Fußball als Finte zusammengefasst und auch nicht anders gelehrt. Übersteiger, Zidane Rollen, Cruyff Turns, Neymar Flicks und etliche andere Bewegungen werden eingeübt und als 1vs1-Training verkauft. Das funktioniert aber nicht nachhaltig, bzw. nicht unter hochklassigen und/oder komplexen Umständen, denn: Jede 1vs1 bzw. 1vsX Situation ist absolut einmalig, durch Abhängigkeit von der Lage (und Bewegung) des Raums, des Gegners und des Ballführenden selbst, und das will erst einmal wahrgenommen und interpretiert werden. Das heißt: 1vsX kann nur im Kontext, also im Spiel (Spielformen) selbst, trainiert werden. Das schließt übrigens auch Dribbelparcours o.Ä. aus, diese kann man als relativ uneffektiv betrachten, und gilt in sehr ähnlichem Schema für Koordinationstraining (Kreative, neue Herausforderung versus statische Hürden, Koordinationsleiter u.Ä.), das würde aber hier den Rahmen sprengen.
Einzelne Komponenten des 1vsX können aber durchaus isoliert betrachtet werden, wie eben die Technik, und deshalb soll hier auch kein Finten-üben-Bashing betrieben werden, dieses hat nämlich seine Berechtigung. Aber: Nicht als 1vs1-Training, sondern als Techniktraining. Und nicht als stoische Einschleifung dessen, was man schon kann, sondern als Möglichkeit, kreativ zu sein und Körper und Gehirn vor immer neue Bewegungsanforderungen zu stellen – wie ja bereits erläutert wurde.

Eine andere sehr wichtige, aber oft übersehene Komponente des 1vsX-Trainings ist Wahrnehmung (und Interpretation):

Je besser der Ball in der Bewegung wahrgenommen wird, desto stärker ist die abschliessende Bewegung, die motorische Verwertung.
Je besser die Gegner im peripheren Sichtfeld wahrgenommen werden, umso mehr Informationen erhält das Gehirn bezüglich Lage, Objekten und Spielern im Raum.
Das Fussballspiel ist ein Prozess ständiger kreativer Problemlösung. Nur mit maximaler Klarheit aus dem visuellen System kann die optimale Grundlage für Entscheidungsfindung überhaupt erst geschaffen werden. Alles ist in der Dynamik des Spiels im (optischen) Fluss, peripheres Sehen ist dadurch der Schlüssel zum überall gepriesenen ,,intelligenten Spiel“. Alles ist auf dem Spielfeld in dauernder Veränderung. Wer schnell in der Lage ist, Veränderungen wahrzunehmen ist somit im Vorteil.
Der eigentliche Skill ist, wieviele gegnerische Trikots man im Raum in kürzester Zeit wahrnehmen kann und die Richtung, in welche sich diese im Moment hinbewegen. Je schneller der Input über die Augen, desto schneller wird die Wahrnehmung und Vorausplanung der nächsten Handlung sein. Kurzum: Je schneller und detaillierter die Bilder der Augen aufgenommen und interpretiert werden können, umso schneller wird das Gehirn eine Handlungsentscheidung treffen können.

Das Gehirn simuliert ständig, was als nächstes geschehen könnte. Dies tut es immer auf Grundlage von Erfahrungen. Der sensorische Input hingegen ist dann so etwas wie ein kybernetischer Abgleich mit der Realität. Wie trainiert man so etwas aber? Aus neurologischer Sicht gibt es beispielsweise Hilfsmittel wie den Padula Cube oder Awareness Charts – gute Tools, die periphere Wahrnehmung wird mit Sicherheit besser – doch wie stabil ist diese Fähigkeit unter Druck? Wie stabil in Bewegung?

Je mehr die periphere Wahrnehmung trainiert ist, desto leichter kann diese auch in Drucksituationen angewandt werden. Der Tunnelblick verringert sich. Nichtsdestotrotz muss diese Fähigkeit auch der Spezifität der Anpassung (das Gehirn passt sich immer genau auf jeden Stimulus an, dem es ausgesetzt ist) entsprechen können und für die reale Spielsituation trainiert werden.

Eine mögliche Lösung: Den Spieler immer wieder in Situationen bringen, in denen er unweigerlich auf seine periphere Wahrnehmung angewiesen ist, um Lösungen zu kreieren. Dies erfordert wiederum ein hohes Maß an Kreativität, Funktionalitätsanalysefertigkeit und Kenntnis seiner Spieler des Trainers, um passende Spielformen zu designen, die zudem den Grundsätzen effektiven Lernens nicht widersprechen.

Wofür ist Wahrnehmung im Fußball noch wichtig?

Die Frage ist eigentlich vielmehr: Wofür nicht?

Ein Statement, das man besonders im Nachwuchsfußball nur allzu oft hört: Wer nicht physisch stark und/oder schnell ist, hat keine Chance. Für etliche NLZs gilt das auch als pauschales Ausschlusskriterium, völlig unabhängig von allem anderen. Sicher, eine gute Athletik ist für einen Fußballer unabdingbar und Spitzenwerte bei Schnelligkeit und Antritt sind extrem wichtige Erfolgskriterien, doch der alleinige Weg ans Licht ist das noch lange nicht – über die spezifische Bedeutung dieser Thematik bei Talententwicklung schrieb Christian Dobrick bei Talentkritiker ausführlich. An dieser Stelle soll aber verstärkt betont werden, dass die physischen und technischen Fertigkeiten zur Überbrückung von Gegner und Raum bzw. zur Hinderung des Gegners bei diesem Vorhaben, und darum geht’s beim Fußball, nur das Werkzeug sind. Die Hand, die das Werkzeug hält, richtet sich zwar schon nach den Kompetenzen ihres Werkzeugs, entscheidet aber auch, was es damit anstellt. Will meinen: Ob oder wohin ein Spieler ins Dribbling geht, ob und wohin er einen Pass spielt, ob und wie er einen Gegenspieler stellt/tackelt etc., das entscheidet nicht nur sein ,,Ballgefühl“, seine 0 auf 30m – Zeit oder sein Körperfettanteil, sondern in erster Linie seine Fähigkeit, seine Umgebung wahrzunehmen und zu bewerten.

Neben der sehr unmittelbaren und situativen Nutzung von schneller und genauer Wahrnehmung, wie sie im 1vsX geschieht, gibt es noch einen weiteren, grundsätzlicheren Nutzen. Eine gute periphere Wahrnehmung und präzise Augen in dem Sinn, dass sich beide Sichtfelder korrekt ergänzen und über eine der Wirklichkeit entsprechende Wahrnehmung des Raums verfügen haben den Vorteil, dass ein Spieler zu jeder Zeit ,,hochaufgelöst“ und in hoher Geschwindigkeit berechnen kann, wo er sich selbst in Relation zu seiner Umwelt befindet und außerdem eine klar ausdefinierte Vorstellungskarte integriert hat, wo sich Spielraum und Tor befinden. Das ist letztendlich Wahrnehmungsqualität und sorgt eben für eine optimale Entscheidungsbasis, ermöglicht somit nicht nur Dribbelerfolg, sondern auch perfekt getimte Pässe, bzw. noch grundlegender: kombiniert mit taktischem Verständnis auch die optimale Nutzung von bestehenden oder sich ergebenden Räumen.

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Lukas Brandl ist U13-Cheftrainer im NLZ des SV Wacker Burghausen. Der B-Lizenz-Inhaber studiert Bildungswissenschaften und begeistert sich für die Vielschichtigkeit des Fußballs aus Spieler- und Trainerperspektive. Für den dienstältesten Talentkritiker besitzen Individualität und Differenziertheit bei Aspekten der Potentialentfaltung einen hohen Stellenwert.

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