
Welle für Welle wollte man den Gegner auseinander spielen. Dominant auftreten. Den Ball kontrollieren, um das Spiel zu kontrollieren. Joachim Löw machte keinen Hehl daraus, dass er im vergangenen Jahr in Russland die Ballbesitzausrichtung der letzten Jahre auf die Spitze treiben wollte. Nach dem schockierenden Ausscheiden der deutschen Mannschaft als Gruppenletzter mit mageren drei Punkten konnte wohl kaum jemand begreifen, was dort in diesen ersten zwei Wochen der Fußball-WM geschehen war. Weltmeister Christoph Kramer war auch nach dem Südkorea-Spiel im Gespräch mit den beiden Ollis des ZDF noch der Überzeugung, dass genau das auch der richtige Weg sei. Dass das Team, welches den Ball kontrolliere, auch den Gegner kontrollieren würde. Fußball-Deutschland war sich dessen jedoch nun nicht mehr so sicher. Nachdem dann auch die Spanier gegen die laufstarken Russen im Elfmeterschießen das Nachsehen hatten, verkam Ballbesitz beinahe schon zum Schimpfwort. Die Nationalmannschaft, die sinnbildlich für das „Tiki Taka“ und seine Erfolge gestanden hatte und „Die Mannschaft“, die in der Tradition und unter guardiolaschen Einflüssen die WM 2014 für sich entscheiden konnte, schieden früh aus. Und all jene, die schon immer das typisch deutsche Spiel – den raumorientierten Umschaltfußball – favorisiert hatten, fühlten sich nun endgültig im Recht: „Tiki Taka“ ist tot! Und „undeutsch“ noch dazu.
„Spiel ab, du Fummelkopp!“
„Wir müssen bei den Spielern wieder mehr Entscheidungsfreude fördern. Wir brauchen Spieler, die sich mehr zu dribbeln trauen, die das Eins-gegen-Eins suchen. Wie oft heißt es dazu doch: Spiel ab, Du Fummelkopp!“
– Norbert Elgert
Der Schalker U19-Trainer Norbert Elgert – eine absolute Institution im deutschen Jugendfußball, durch dessen Schule Juwelen und Top-Athleten wie Manuel Neuer, Mesut Özil, Leroy Sané, Benedikt Höwedes, Julian Draxler und Thilo Kehrer gingen – sorgte am Rande eines hochkarätig besetzten Hallenturniers in Sindelfingen für eine Menge Gesprächsstoff. Die Trainer-Legende, die dem Nachwuchs aus Überzeugung nie den Rücken kehrte, kritisierte bei „Sport 1“ deutlich aktuelle Tendenzen im Jugendfußball, auch wenn Elgert das in dieser Deutlichkeit nicht verstanden haben wollte. Die Deutschen würden, so Elgert, schnell zu extremen Gefühlsschwankungen neigen – von himmelhoch jauchzend bis hin zum Abstieg hinab ins Tal der Tränen, in dem kein gutes Haar an allem gelassen wird, was auch nur im Entferntesten mit dem Misserfolg zu tun haben könnte. Und trotzdem war ihm wichtig, aktuelle Zustände im Jugendfußball zu benennen, die in seinen Augen klar negative Entwicklungen sind, ohne dabei so plakativ zu werden wie einst Ex-Profi Mehmed Scholl. Kern seiner Kritik waren Verhaltensweisen von Trainerkollegen (und auch Eltern), die die Entscheidungsfreude und den Mut zum Risiko der Jugendspieler massiv beeinträchtigen.
Jeder, der in seiner Freizeit einmal ein Kinder- oder Jugendspiel des lokalen Fußballvereins besucht hat, wird bestätigen können, den Fummelkopp-Ausruf oder einen ähnlich klingenden von Trainern oder Eltern am Spielfeldrand mindestens einmal gehört zu haben. Wohl spätestens seitdem Arsène Wenger Anfang der 2000er Jahre mit seinem „One-Touch-Football“ die Premier League dominierte, fassten viele Hobby-Trainer den Entschluss, dass ihre Schützlinge ebenso gut daran täten, den Ball schneller zu spielen und weniger zu dribbeln. Als dann aber der FC Barcelona in Regie des katalanischen Star-Trainers Pep Guardiola die Welt begeisterte und auf Anhieb alles gewann, was es zu gewinnen gab, radikalisierte sich diese Tendenz zum Abspiel. Nicht selten wurde nun auch auf den Plätzen von lokalen Kreisligisten das attraktive Kurzpassspiel trainiert und bereits die Jüngsten sollten das Spielgerät doch bitte spätestens mit dem zweiten Ballkontakt wieder abgeben. Wohin abgeben? Egal! Passen, passen, passen. Ohne Idee, warum der Ball denn nun dort hin gepasst werden sollte. Ohne sich zu fragen, ob es denn nun überhaupt ratsam sei, den Ball dort hin zu bringen, wohin er nun gepasst worden ist. Ohne Ziel, den Ball im neuen Raum gewinnbringend Richtung Tor zu rotieren. Hauptsache passen. Schließlich gewinnt der FC Barcelona damit jede Trophäe, oder nicht?
Im Training wird mancher Orts immer und ausschließlich mit drei Kontakten gespielt, unabhängig von Sinnhaftigkeit in konkreten Spielsituationen oder taktischen Prinzipien. Spieler die Dribbeln – ob raumüberwindend, gegnerüberwindend oder schlicht ballhaltend – werden vielfach von Außen angezählt und Wiederholungstäter gar ausgewechselt. Diese Tendenzen, sowohl im Juniorenspitzenfußball als auch im Breitensport, sind gleich doppelt dramatisch. Denn Kinder begeistern sich in ihren Anfängen besonders am Fußball, wenn sie den Ball selbst am Fuß haben. Ihre intrinsische Motivation beruht darauf, mit dem Spielgerät – wie sollte es auch anders sein – tatsächlich zu spielen. Das übergeordnete Spielziel, nämlich das Erzielen von Toren und der Sieg, rückt in der Wahrnehmung von Anfängern des Fußballsports häufig in den Hintergrund. Auf der anderen Seite beruht die Passideologie derjenigen, die Elgert anspricht, auf einem grundlegenden Missverständnis von dem, was Trainer-Ikonen wie Johan Cruyff oder Pep Guardiola im Sinn haben, wenn sie davon reden, dass der Pass die Grundlage des Fußballspiels ist.
„Tiki Taka“ als Schimpfwort
„Ich hasse dieses ewige Tiki-Taka! Lasst mich mit dem Tiki-Taka zufrieden. Tiki-Taka ist eine Ersatzhandlung: sich den Ball zuspielen, um sich den Ball zuzuspielen, ohne jede Absicht oder Drang nach vorne. Nichts! Nichts! Ich werde es nicht zulassen.“
– Pep Guardiola
Kaum ein Zitat Guardiolas wurde von Verfechtern des sogenannten Ballbesitzfußballs wohl im Kontext der Fußball-WM 2018 häufiger bemüht, als diese Grundsatzerklärung zu Beginn seiner Zeit beim FC Bayern München. Es ist eine leidenschaftliche Verteidigung dessen, woran der katalanische Star-Coach, der chronisch missverstanden wird, glaubt. Denn schon in seiner Bayern-Zeit verstand weder die deutsche Öffentlichkeit, noch die internationale Presse, was sie dem Katalanen mit diesem „Tiki-Taka“-Begriff eigentlich antaten. Guardiolas Ablehnung des Begriffes „Tiki Taka“ ist passend für die Problematiken im Jugendfußball und reiht sich durchaus auf den zweiten Blick in Elgerts Kritik ein. Denn viele Trainer möchten Guardiola kopieren, ohne dabei zu verstehen, was Guardiola eigentlich genau tut – zum Leidwesen ihrer Schützlinge. Ihre Entwicklung als Fußballer wird durch die Fehlinterpretation einer Spielauffassung schlicht und ergreifend beeinträchtigt. Um zu verstehen, warum der „Tiki Taka“-Begriff absolut problematisch ist – auch wenn er in Deutschland mittlerweile als Synonym für Guardiolas Spielauffassung genutzt wird – muss man sich zunächst anschauen, woher der Begriff „Tiki Taka“ überhaupt rührt.
„Tiki Taka“ kommt aus dem Spanischen und gewann mit der Verwendung durch den Journalisten Andrés Montes während der Heim-WM 2006 an Bedeutung. Der für den Fernsehsender La Sexta kommentierende Montes fühlte sich bei den vielen kurzen Pässen seiner Nationalmannschaft wohl an das in den 1970er-Jahren verbreitete Kinderspiel der „Klick-Klack-Kugeln“ erinnert. Dieser Begriff Montes‘, der in dessen Verwendung eher neutral konnotiert war, wurde in der spanischen Sprache jedoch recht schnell zu einem beliebten Kampfbegriff der Kritiker dieser Spielauffassung. „Tiki Taka“ wurde das Wort für den fruchtlosen Ballbesitz, der sich zwar durch optische Dominanz, aber eben auch Harmlosigkeit vor dem gegnerischen Tor auszeichnete. Tiki Taka ist also eine Art des defensiven Ballbesitzfußballs. Wenn es das zentrale Prinzip des Spiels ist, den Ball zu besitzen, nur um ihn zu haben, dann kontakariert dies den Zweck des eigentlichen Fußballspiels. Denn nicht nur hinsichtlich des „Was“ – dem Ergebnis – ist diese Interpretation von Ballbesitz schwierig, sondern auch in Bezug auf das „Wie“ – der Idee, wie das „Was“ erreicht werden soll – schadet es dem Fußballsport. Tiki Taka ist so defensiv, so auf Defensive und Risikovermeidung ausgelegt, dass es genauso wie das Catenaccio eine Qual für den Zuschauer ist. Jeder, der guten Fußball zu schätzen weiß, dem ist klar, welchen Anteil ein großes Spektakel und Torchancen auf das Fußballspiel selbst hat. Tiki Taka verhindert Highlights jedoch ebenso, wie es diejenigen tun, die in metaphorisch „den Bus (vor dem eigenen Tor) parken“ und keinerlei Interesse daran haben, aktiv am Spielgeschehen teilzunehmen. Das Tiki Taka ist also nicht mal im Entferntesten der kleine Bruder des Positionsspiels. Im Gegenteil: Das italienische Catenaccio und das spanische Tiki Taka sind verwandt.
Die unendliche Debatte – Tore verhindern oder Tore erzielen
„Wenn ich kein Risiko eingehe, riskiere ich alles!“
– Pep Guardiola
Fußball, so eine weitverbreitete Meinung, sei ein Spiel, bei dem es um Fehlervermeidung geht. Wer weniger Fehler beginge, gewinne das Spiel. Aus diesem Verständnis des schönen Spiels heraus haben sich nicht nur ganze Spielphilosophien, Strategien und Gruppen- und Mannschaftstaktiken entwickelt, sondern auch individualtaktische Elemente des Spiels – die wohl kleinste Einheit einer fußballerischen Aktion – haben sich in diesem Geist geformt. Doch von vorne: Ganz trivial gedacht, ist es im Fußball nur möglich, erfolgreich zu sein, wenn man in Besitz des Spielgerätes ist. Nur wenn man den Ball hat, ist es möglich einen Punkt zu erzielen, der dann letzten Endes dafür sorgt, dass der Sieg zu Gunsten des eigenen Teams ausfällt. Selbst die Anzahl der Gegentore wäre vollkommen nebensächlich, solange das eigene Team nur ein Tor mehr erzielen würde, als der Gegner. Wer käme also auf die Idee, dem Gegner freiwillig den Ball zu überlassen? Trotzdem hat sich der Fußball wunderlicherweise insbesondere in Deutschland anders entwickelt, nämlich im Geiste der Risikovermeidung. Sieht man sich ein unterklassiges Spiel an, wird man bemerken, dass sich viele Fußballer erstaunlich wohl fühlen, wenn sie den Ball nicht am Fuß haben. Besonders in der Nähe des eigenen Tores möchten die wenigsten Spieler den Ball haben, denn wenn sie einen technischen oder taktischen Fehler machen, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass der Gegner in Folge dessen ein Tor erzielt.
Im Fußball entwickelte sich daraufhin den Terminus des „Klärens“. Den Ball klären bedeutet, ihn meist im hohen Bogen und unter großem Kraftaufwand wegzuschießen, um das Spielgerät aus der sogenannten „Gefahrenzone“ zu befördern und dabei in Kauf zu nehmen, ihm dem Gegner herzuschenken. Das Wort „Gefahrenzone“ besitzt dabei eine negatives Framing, das dabei schon linguistisch ein bestimmtes Fußballverständnis offenbart. Schließlich könnte man sie, positiv geframed, ebenso gut Spielaufbauzone nennen. Stattdessen wird der Ball so als Gefahr interpretiert. Doch nicht nur im Strafraumnähe scheinen viele Fußballer zappelig zu werden, wenn sie den Ball am Fuß haben, sondern auch in allen anderen Teilen des Spielfeldes sieht es so manches Mal so aus, als würde der Ball nur hin und her gespielt werden, damit potenziell ein anderer Spieler den Fehler macht. Ein im Grunde sehr trauriges Verständnis von einem Spiel, dass einmal erdacht worden ist, um den Spielern selbst Spaß zu bringen. Denn es ist durch und durch von Angst geprägt. Es ist also die logische Konsequenz, dass im Geiste dieser Angst die mutigen, ja fast naiv wirkenden Ideen von Trainern wie Rinus Michels, Johan Cruyff oder Pep Guardiola pervertiert werden würden.
Tiki Taka ist als defensiver Ballbesitzfußball, der aus der internen Logik des Spiels heraus zum Scheitern verurteilt ist, ebenjene Mutation des einstigen Ideals. Ballbesitzfußball zeichnet sich dadurch aus, dass er den Anspruch hat, jeder Zeit agieren und die Initiative innehaben zu können. Wer den Ball hat, der ist die treibende Kraft im Spiel und bestimmt, wo das Spiel gerade stattfindet. Defensive wird jedoch zunächst einmal als ein reaktiver Akt verstanden (gleichwohl auch hier Grauzonen existieren, denn sowohl das Gegenpressing als auch das Pressing versucht diese Regel umzukehren). Ballbesitz also vorrangig defensiv nutzen zu wollen ist nicht nur kontraintuitiv, sondern schlicht und ergreifend auch unökonomisch. Das Tiki Taka hat die cruyff’sche Grundidee, das „Wie“ über das „Was“ zu stellen, umgekehrt und sie damit vollkommen ad absurdum geführt. Für Cruyff stand der Prozess und die Idee über einzelnen Ergebnissen. Doch wie unterscheiden sich dieser defensive Ballbesitzfußball – das große Missverständnis der cruyffschen Idee – vom sogenannten Positionsspiel?
Das Positionsspiel ist die Idee des offensiven Ballbesitzfußballs. Wenn das Tiki Taka der Antagonist unserer fußballerischen Geschichte ist, so ist das Positionsspiel der Held der Geschichte, der für das Licht steht – oder so ähnlich. Das Risiko ist hier nicht angstbeladen, sondern es wird dabei bewusst und ohne Naivität in Kauf genommen. Der Begriff Positionsspiel kommt ebenfalls aus dem Spanischen („Juego de posicion“). Der Terminus ist im Deutschen (aber wohl auch im Spanischen) dabei sehr missverständlich, denn er ruft zunächst einmal die Assoziation einer Position im mannschaftstaktischen Sinn hervor. Beim Positionsspiel geht es jedoch nicht darum, dass Spieler permanent auf einer Position kleben, sondern es geht viel mehr darum, dass sie sich richtig positionieren. Permanent meint dabei in jeder der vier Spielmomente (Eigener Ballbesitz, Umschalten von eigenem Ballbesitz auf gegnerischen Ballbesitz, Gegnerischer Ballbesitz, Umschalten von gegnerischem Ballbesitz auf eigenen Ballbesitz) und in dynamischer Abhängigkeit zu Mitspieler, Gegner, Ball, Raum und Zeit. Wahrscheinlich wäre der Neologismus „Positionierungsspiel“, den einst Juanma Lillo vorschlug, treffender, um Spielern wie Trainern zu verdeutlichen, was genau gemeint ist. Denn wenn man beginnt zu verstehen, dass es nicht darum geht, eine Position zu spielen, sondern sich zu positionieren, wird klar, welchen fundamentalen Unterschied das macht. Erklären lässt sich das anhand einer konkreten Spielsituation hinsichtlich des Anbietverhaltens eines Spielers, der den Ball haben möchte. Ein Spieler kann am falschen Ort (sprich auf der falschen Position) sein, aber richtig (anspielbar, spieloffen) zum Ball stehen. Ein Spieler kann ebenso falsch zum Ball stehen, aber auf der richtigen Position sein. Ist er aber richtig positioniert, befindet er sich auf der richtigen Position bzw. im richtigen Raum und steht gleichzeitig auch noch richtig zum Ball.
Nun hat aber auch das Positionsspiel „defensive“ Ballbesitzphasen. So gibt es jene Ballbesitzphasen, die geeignet sind, um sich selbst zu erholen und den Gegner müde zu spielen. Der Ball wird dabei in bestimmten Räumen gehalten, um Räume an einem anderen Ort des Platzes zu öffnen. Chelsea-Coach Maurizio Sarri lässt seine Innenverteidiger sich neben dem Strafraum positionieren, wenn sein Torhüter den Ball herausspielen soll. Meist lassen diese den Ball dann zentral auf den Torhüter zurückklatschen und bieten sich selbst im Strafraum an. Was sehr risikoreich wirkt, hat System: Die Idee des Italieners ist, das gegnerische Pressing bewusst anzuziehen und damit vorrangig Räume hinter der gegnerischen Mittelfeldreihe (sprich zwischen Mittelfeld und Verteidigung) zu öffnen. Der gegnerische Pressingwall wird dann zielgenau und äußerst vertikal mit einem flachen One-Touch-Kurzpasspiel überspielt oder die Räume hinter der gegnerischen Mittelfeldkette werden gezielt und präzise mit einem sogenannten Anti-Pressing-Ball (z.B. ein Lupfer) anvisiert. Man könnte diese Idee des Ballbesitzes durchaus als Defensiv betrachten. Der entscheidende Unterschied zum Tiki Taka jedoch ist, dass hier jeder einzelne Pass einen taktischen Zweck verfolgt und aus der Absicht heraus gespielt wird, ein Tor zu erzielen.
Tiki Taka und Positionsspiel: Spielentscheidende Unterschiede
„Kein Kind hat mit dem Fußball angefangen, um zu verteidigen.“
– Thomas Tuchel
Die Kernidee des Positionsspiel ist es, dass Spiel selbst zu rationalisieren. Im Gegensatz zu anderen Mannschaftssportarten ist der Fußball unheimlich ungerecht, da er viel mehr vom Zufall abhängt, als Sportarten, die mit der Hand gespielt werden. Auf eher kleinen Feldern und einem Ball, der durch das Fangen festgemacht und somit absolut gesichert werden kann, sind taktische Änderungen, Varianten oder Neuerungen bedeutend einfacher umzusetzen, als es im Fußball der Fall ist. Fußball wird auf einem großen Feld und – banal wirkend und doch alles entscheidend – mit dem Fuß gespielt. Die Füße und Beine des Menschen jedoch sind im Vergleich zu unseren Händen und Armen ziemlich grobmotorische Extremitäten, mit denen sich nur zielgenau arbeiten lässt, wenn das Gehirn über einen langen Zeitraum und sehr intensiv in den verschiedensten Spielkontexten darauf trainiert worden ist. Die anatomischen Abläufe und damit die Möglichkeiten sind weniger komplex und anders als mit unseren Händen ist es schlicht unmöglich, den Ball mit zwei Füßen gleichzeitig zu spielen, da wir ansonsten unseren Stand und das Gleichgewicht verlieren. Taktisch betrachtet ist der Ball zudem zu jedem Zeitpunkt – außer wenn der Torhüter ihn mal in den Händen hält – für alle spielbar, da er frei ist. Er kann nicht festgemacht werden und muss, um ihn zu behalten, ständig in Bewegungen sein. Rationalisierung in einem Sport, der so unkalkulierbar wie der Fußball ist, läuft also auf die Minimierung von Zufällen hinaus.
Das Positionsspiel möchte dafür sorgen, die Wahrscheinlichkeit, ein Spiel zu gewinnen, zu maximieren. Dabei ist präzise zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit zu differenzieren, denn die Regeln des Fußballsports machen es zwar möglich, das Spiel zu gewinnen ohne ein einziges Mal die gegnerische Hälfte betreten zu haben, es ist aber nicht sonderlich wahrscheinlich, dass das passiert. Viel wahrscheinlicher ist es, das Spiel zu gewinnen, wenn man den Ball permanent steuern kann und ihn in der gegnerischen Hälfte in seinem Besitz hat. Es ist zwar trotzdem möglich, dass das Spiel aufgrund eines Konters verloren geht, es ist aber nicht sonderlich wahrscheinlich, denn wenn man von 90 Minuten rund 80 Minuten die Initiative innehat, bleiben dem Gegner nur ein Neuntel der Gesamtspielzeit, um selbst günstige Situationen zu schaffen.
Um nun die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass genau dies eintritt, muss man also in der Ausbildung dafür sorgen, dass die eigenen Spieler technisch besser werden, das Spiel (zumindest intuitiv) verstehen und sich die Qualität ihrer getroffenen Entscheidungen erhöht, eben weil sie das Spiel verstehen, auch wenn sie es nicht zwangsläufig verbal artikulieren können. Technik ist die absolute Grundlage dafür, das Spielgerät und somit auch das Spiel beherrschen zu können, weshalb Spieler schon in jungen Jahren erkennen müssen, dass es im modernen Fußball, der sich immer rasanter entwickelt, nicht länger reicht, einfach nur zu spielen, wie es einst Pelé tat, sondern dass sie das Spiel begreifen müssen. Das Maß dafür ist stets die getroffene Entscheidung auf dem Platz. Wenn ein Spieler erkennt, dass der Gegner auf dem linken Bein steht und er deswegen rechts vorbei dribbeln kann, dann muss er nicht erklären können, warum und wie er es verstanden hat, denn seine korrekte Entscheidung ist Zeugnis seines Verständnisses. Das Positionsspiel versucht nun, den eigenen Spielern zu ermöglichen, so schnell wie die Initiative zu ergreifen, damit Entscheidungen aktiv getroffen werden können – wofür die Mannschaft den Ball benötigt. Ist es in einer Situation sinnvoller, zu dribbeln – ob gegnerüberwindend, raumüberwindend oder ballhaltend ist dabei zunächst einmal vollkommen nebensächlich – dann wird eben gedribbelt. Der Eindruck, dass Tiki Taka und Positionsspiel das gleiche seien, entsteht aus der Tatsache, dass der überwiegenden Zahl der konkreten Situationen ein Pass die sinnvollste und erfolgversprechendste Variante im spielerischen Kontext ist, einen Vorteil zu generieren und weiterhin in der Initiative zu bleiben. Besonders im letzten Drittel ist es aber häufig so, dass nun das Dribbling die erfolgsversprechenste Variante ist. Während nun im Tiki Taka weiter umher gepasst werden würde, nur um das Risiko zu vermeiden, den Ball zu verlieren, wird im Positionsspiel gedribbelt. Bei Mannschaften, die im Geiste des Positionsspiel spielen, lässt sich genau das beobachten. Ob Lionel Messi beim FC Barcelona, Leroy Sané oder Raheem Sterling bei Manchester City oder Neymar und Mbappé in Paris: Wenn gedribbelt werden muss, um die Absicht zu erreichen und die Situation günstig ist – die Wahrscheinlichkeit also hoch ist, dass die Aktion gelingt – dann wird gedribbelt.
Dieser „Tiki-Taka“-Irrtum, der Guardiolas Positionsspiel mit dem sinnlosen Umherpassen verwechselte, sorgte dafür, dass selbst die hochkreativen Ballkünstler, die mit ihren gegnerüberwindenden Dribblings die immer tiefer stehenden gegnerischen Abwehrreihen öffneten, pauschal und so schnell wie möglich abspielen sollen. Dabei ignoriert dieses Verständnis des sogenannten Ballbesitzfußballs nicht nur die Qualitäten der zur Verfügung stehenden Spieler, sondern zerstört auch jeden Rhythmus im eigenen Ballbesitzspiel. Die Essenz eines funktionierenden und effektiven Ballbesitzspiels sind ständige Tempowechsel. Schnelligkeit und Pause, den Gegner anlocken, ihn dann konsequent mit schneller Kombination zu überspielen um dann in Überzahl auf die gegnerische Abwehr zuzulaufen. Guardiola eröffnete seinen Spielern beim FC Bayern München einmal, dass es das Geheimnis jeder Ballsportart ist, den Gegner auf eine Seite zu locken, um es dann über die andere Seite zu versuchen (Perarnau, 2014). Der Katalane versteht das Spiel wie einen thermodynamischen Prozess in der Physik. Sein Team soll, sowohl mit als auch gegen den Ball, flüssig und damit möglichst dynamisch sein.
„Wenn eine Flüssigkeit erhitzt wird, bewegen sich die Moleküle stärker und ordnen sich je nach Charakteristik der Flüssigkeit in der einen oder anderen Weise an. (…) ‚Barca ist nicht fest, sondern flüssig.‘ (…) Denn wenn wir sagen: ‚Diese Mannschaft ist sehr kompakt‘, bedeutet das eigentlich, dass sie sehr verwundbar ist. Gase sind weniger anfällig als Festkörper. Auch Flüssigkeiten sind weniger anfällig als Festkörper. Von Festkörpern kann man alles wissen, auch wo ihre Schwachstellen liegen. Wenn man diese Schwachstelle triftt, zerbrechen sie. Flüssigkeiten nicht.“
– Francisco Seirullo
Das sogenannte Tiki Taka ist jedoch ein eben solcher Festkörper, weil es, anders als das Positionsspiel, dogmatisch und somit sehr statisch ist. Es gibt immer eine klare Handlungsanweisung und die lautet, den Ball abzuspielen, um den Ball abzuspielen. Gleichwohl das keinesfalls immer die korrekte Entscheidung ist. Wie könnte es das auch, wenn man begreift, wie unheimlich komplex jeder Moment eines Mannschaftsspiels tatsächlich ist? Um nun aber zu erkennen, welche Entscheidungen die Richtige ist, bedarf es einiger Bewertungskriterien, die ein Spieler in einem Sekundenbruchteil berücksichtigen muss: Wo ist der Ball? In welcher Situation ist der Ball? Wo sind die Gegner? Wie groß ist der Abstand zwischen Ball, Gegner und Mitspielern? Welcher Gegner und welcher Mitspieler bewegt sich gerade wohin? Wohin bewegt sich der Ball gerade? In welche Richtung bewegt sich das gesamte Spiel gerade überhaupt? Welche Passverbindungen gibt es? Kann ich die momentane Situation nur auf eine Art und Weise auflösen oder habe ich Optionen? Wenn ich keine Optionen habe, wie kann ich mir welche schaffen? Wie kann ich weiterhin kontrollieren, was passiert?
All diese Fragen müssen innerhalb von einem Wimpernschlag gestellt, die Informationen der Situationen verarbeitet, bewertet und entsprechend der Fragestellung vom Spieler selbst korrekt beantwortet werden, bevor eine Entscheidung getroffen und ein Handlungsmuster eingeleitet werden kann. Im „Tiki Taka“ wäre die Antwort nun immer die gleiche: „Spiel ab, du Fummelkopp!“ Egal ob es dafür sorgt, dass durch einen Pass eine Situation hergestellt wird, die günstig für das eigene Team ist und dafür sorgt, dass man weiter die Initiative inne und Optionen hat, oder nicht. Resümierend lässt sich also feststellen, dass sich das Positionsspiel in zwei wesentlichen Kernpunkten vom Tiki Taka unterscheidet, auch wenn beide Spielarten auf dem Platz zunächst auf den ersten Blick sehr ähnlich aussehen: Dem Sinn und dem Prinzip der Initiative!
Der Ball als Zentrum der Ausbildung
„Es liegt nicht in der Natur des Menschen, dem Ball hinterherzulaufen.“
– Tim Walter
Häufig wird das ballbesitzorientierte Positionsspiel als „linker Fußball“ bezeichnet. Dabei ist „Links“ in diesem Kontext durchaus im politischen Sinne zu verstehen, denn die Grundidee des Positionsspiel ist es – ähnlich wie in sozialistischen oder kommunistischen Ideenkonstrukten –, dass alle alles machen und dabei in ihrer spielerischen Bedeutung eine gleiche Gewichtung erfahren. Keiner kann sich im Positionsspiel darauf verlassen, dass die Anderen für ihn verteidigen und im Umkehrschluss kann auch keiner in Anspruch nehmen, nicht mit angreifen zu müssen. Jeder hat immer eine Aufgabe, der Torhüter ist der erste Angreifer und der Stürmer der erste Verteidiger. Damit wirft das Positionsspiel die starre Idee von Defensive und Offensive über den Haufen und überträgt allen die gleiche Verantwortung. Es begreift das Fußballspiel als ein unglaublich dynamisches System, dass sich stetig verändert und in dem jeder mit jedem und allem, was auf dem Spielfeld zu finden ist, eine Beziehung eingeht.
Fußball ist weder einfach, noch linear, wie es die Trennung in Defensive und Offensive den Anschein erwecken lässt. Nicht umsonst stellte Johan Cruyff fest, dass es am schwierisgten ist, den einfachen Fußball zu spielen. Fußball ist dynamisch und komplex. Grundsätzlich gilt im Fußball, wie das langjährige Mitglied des Trainerstabes des FC Barcelona Francisco Seirullo einmal feststellte, dass alles mit allem zu tun hat, Dinge nicht passieren, die nicht passieren können, aber alles, was die Spieler machen Interaktionen und nicht nur isolierte Aktionen sind. Jeder Ballkontakt, jedes Dribbling, jede noch so kleine Bewegungen an jedem Ort des Feldes ist eine Interaktion mit dem gerade ablaufenden Spielkontext. Wie beim Schmetterlingseffekt kann sich dabei bereits die kleinste Änderungen bereits verheerend auf die ablaufende Spielsituation auswirken, denn wenn nur ein Spieler nicht aus einem Deckungsschatten hervorkommt – und sei es nur ein Unterschied von 50cm – kann es darüber entscheiden, ob ein Pass erfolgreich ist, oder nicht. Vergleichbar mit einem Elektron, dessen Impuls allein schon dadurch unscharf wird, dass es in einer Messung räumlich lokalisiert wird, ist auch Fußball ein gekoppeltes System von Beziehungen und Interaktionen auf dem Platz.
Die linearen Spielmomente, die einst von van Gaal und Mourinho definiert wurden, geben daher als Approximation eines komplexeren Systems nur einen groben, kategorischen Anhaltspunkt dafür, was eigentlich passiert. Die Mannschaften von Jürgen Klopp durchbrachen diese Kategorisierung einst eindrucksvoll, indem sie die Logik dieser Spielmomente schlicht und ergreifend umkehrten. Statt sich als passiv zu begreifen, wenn sie den Ball verloren hatten, waren genauso diese Umschaltmomente auf Defensive jene Momente, die Klopps Team als ihre offensiven Momente begriff. Das sogenannte Gegenpressing wurde der Spielmacher und brachte alles durcheinander, was bis zu diesem Zeitpunkt für möglich gehalten wurde – mit großem Erfolg. Das Gegenpressing, das zwar Guardiola schuf, Klopp aber zu seinem wichtigsten Prinzip erhob, ist ein Paradebeispiel dafür, warum Fußball viel mehr einem quantentheoretischen System gleicht, als einem klassischen, wie das strikte Denken in Offensive und Defensive suggeriert.
Daraus folgend gibt es im Fußball keine isolierten Spielzüge eines Einzelakteurs oder einer Gruppe von Spielern, da sie alle immer in direkter Beziehung zu allen anderen Akteuren und ihren Handlungen stehen. Das Trainieren von konkreten Spielzügen ist somit auch nicht sinnvoll – schon gar nicht im Kindes- oder Jugendalter. Das Konstrukt des Spielzugs ist eine sehr statische Angelegenheiten, die davon ausgeht, dass eine im Training konstruierte Spielsituation in exakt gleicher oder zumindest sehr ähnlicher Form im Spiel selbst auftreten wird. Bei diesem Verständnis des Fußballs wird vorausgesetzt, dass der Spieler auch explizit versteht, welche konkrete Spielsituation nachgestellt und trainiert werden soll und sie gleichzeitig im Spiel selbst in einem Sekundenbruchteil trotz sich dynamisch verändernder Umstände wiedererkennt. Hat ein Spieler aber den Ball, so befindet er sich in einer Spielsituation, die nur eine flüchtige Momentaufnahme eines dynamischen und komplexen Gesamtkonstruktes ist. Keine einzige Situation ist wie eine vorangegangene oder zukünftige Situation. Der ballbesitzende Spieler ist nur in dieser einen konkreten Situation, weil eben vorher Dinge um ihn herum passiert sind und er vorher etwas getan hat, um in diese Situation zu kommen. Auch in der Gegenwart, sprich dem Moment, in dem er den Ball annimmt, passieren pausenlos Dinge um ihn herum, die dafür sorgen, dass er überhaupt die Initiative innehaben und etwas tun kann. Würden nämlich seine Mitspieler um ihn herum nicht mit ihm, dem Gegner und dem Ball interagieren, sondern schlicht und ergreifend stehen bleiben und die Interaktion verweigern, würden sich wohl alle Gegenspieler auf ihn stürzen und ihm den Ball abnehmen. Weil aber all diese Dinge um den Spieler herum simultan und dynamisch passieren, kann er überhaupt handeln, weswegen alles um ihn herum – angefangen beim eigenen Torhüter über jeden anderen der neun Mitspieler auf dem Feld – genauso wichtig ist, wie er selbst. Jede noch so kleine Entscheidung, die ein Mitspieler trifft, beeinflusst die Situation ebenso, wie derjenige, der den Ball am Fuß hat. Zweifelsohne gibt es eine gewisse Gewichtung hinsichtlich dieser Einflüsse – derjenige, der den Ball am Fuß hat, hat letzten Endes mehr Kontrolle über eine Situation, als die 21 anderen, die ihn nicht am Fuß haben. Trotzdem hat jeder Spieler im „linken Fußball“ des Positionsspiels zu jedem Zeitpunkt eine konkrete Aufgabe, damit die Initiative bei seinem Team bleibt. Ein Traum für die Ausbildung von jungen Talenten, da sich kein Spieler nur auf das Angreifen oder Verteidigen beschränken kann und die damit folgerichtig ganzheitlich ist.
Den Ball am Fuß zu haben und etwas damit zu tun, ist die intrinsische Motivation jedes einzelnen Spielers, der mit dem Fußball anfängt. Diese grundlegende Wahrheit hat auch der DFB spätestens mit der Klinsmann-Löw-Revolution ab 2004 verinnerlicht und akzeptiert. Aus ihr speisen sich grundsätzliche Leitlinien des DFB in der Ausbildung von jungen Fußballern. Jedes Kind soll, so der DFB, besonders im Bambini-Alter im Training einen eigenen Ball bekommen. Stand- und Wartezeiten auf Aktionen im Training sollen möglichst klein gehalten werden. Die Kinder sollen also etwas mit dem Ball tun, um den Fußball und seine grundlegenden Techniken zu erlernen. Vieles, was nach 2004 vom DFB begonnen wurde, war richtig und wichtig.
Die Frage, die sich stellt, ist jedoch, warum dieser Weg mit zunehmenden Alter der Ausbildung von jungen Talenten verlassen wird? In den höheren Spielklassen im Juniorenalter wird unglaublich viel gegen den Ball gespielt und das „Was“ steht über dem „Wie“. Die Spieler haben den Ball nur einen Bruchteil der Spielzeit überhaupt am Fuß, das gebietet die Logik des Spiels. Trotzdem wird versucht, diese Zeitfenster kurz zu halten und so selten wie möglich überhaupt erst aufkommen zu lassen. Mit dem kleinen Jungen, der in jeder Trainingseinheit immer seinen Ball am Fuß hatte, hat das mit fortschreitendem Alter wenig zu tun. Um sich einen Eindruck zu verschaffen, wie oft und wie lange ein Spieler überhaupt in 90 Minuten den Ball am Fuß hat, lässt sich der Spitzenwert der Saison 18/19 bemühen. Joshua Kimmich hielt nach 19. Spieltagen den Bestwert was die durchschnittlichen Ballkontakte pro Spiel angeht. Er erreicht einen Wert von 101,05 Ballkontakten pro Spiel, was ihn in 1710 gespielten Minuten auf einen Gesamtwert von 1920 Ballkontakten kommen lässt. Pro Spielminute berührt Kimmich also nur 1,122 mal den Ball.

Ballkontakt-Werte der Spieler in der Bundesliga-Saison 18/19 bis zum 19. Spieltag. (Quelle: Sport.de)
Im Schnitt, so eine französische Studie aus dem Jahr 2010 (Carling, 2010) im Auftrag des OSC Lille, führt ein Profi den Ball bei seinen Ballkontakten 1,1 Sekunden lang am Fuß. Dieser Wert wird sich wahrscheinlich aufgrund des mittlerweile höheren Tempos im Weltfußball weiter nach unten korrigiert haben, dient uns aber trotzdem einmal als Ausgangswert. Spitzenreiter Kimmich hat den Ball also gerundet nicht einmal zwei Minuten pro Spiel am Fuß (111 Sekunden). Seitdem weder Guardiola, noch Tuchel in der Bundesliga trainieren, ist das Spiel mit dem Ball am Fuß wieder seltener geworden. Die Rekordhalter in Sachen Ballkontakte stammen allesamt noch aus diesen Zeiten (1. Weigl (214), 2. Alonso (206) 3. Thiago (187)).
Wie Eduard Schmidt von Spielverlagerung.de und Konzeptfußball Berlin 2016 einst in seiner ausführlichen Analyse über den Juniorenspitzenfußball in Deutschland feststellte (s.u.), trifft dies auch für den Nachwuchsfußball zu. Nur wenige Ausreißer (wie z.B. der heutige Kiel-Trainer Tim Walter) gewichteten das Spiel mit dem Ball am Fuß höher, als das Spiel gegen den Ball. Die Ausbildung in Deutschland weist also einen massiven Bruch auf, sobald es um Ergebnisse und Auf- und Abstiege im Jugendfußball geht. Vom Kind, das immer den Ball am Fuß hat und Fußball spielen darf, hin zum Jugend- und Erwachsenenspieler, der den Ball teils weniger als eine Minute in der gesamten Partie tatsächlich am Fuß hat, Fehler vermeiden soll und somit nicht mehr dribbeln darf, sondern den Ball so schnell wie möglich weiter spielen muss. Solange Fußball in Deutschland als ein Spiel der Fehlervermeidung begriffen wird, ist es unmöglich, langfristig mit dem Ball auszubilden. Wer den Ball hat, der wird Fehler machen. Ob im Dribbling oder im Passspiel. Es ist eine kuriose Logik, die hinter dem deutschen „Angsthasenfußball“ steckt, denn sowohl hinter den raum- und gegnerorientierten Umschaltspielweisen, die den deutschen Fußball auszeichnen, als auch hinter dem „Tiki Taka“ steckt mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Angst vor den Fehlern der Spieler.
Reformbedarf 2.0
„Everything starts with the ball and finish with the ball. Sometimes we forget that football is a game 11 vs. 11 with one ball. And we try to keep this ball, we try to play with the ball, we try to make everything with the ball.“
– Pep Guardiola
Deutschland steht wieder einmal an einem Scheideweg in der Ausbildung. Weniger radikal als zu Beginn der 2000er, da hat Nobert Elgert absolut recht. Nach der verpatzten WM 2018 jedoch stehen viele Themen auf der Agenda, die in den Zeiten des Erfolges noch ignoriert werden konnten. Beginnend beim ‚Relative Age Effect‘ bis hin zur gesamten deutschen Fußballkultur und den Ausbildungsweisen steht nun alles auf dem Prüfstand. Wie Michael Zorc nun feststellte, ist es durchaus auffällig, dass es nur noch wenig interessante deutsche Nachwuchsspieler gibt, die sich tatsächlich mit den Top-Talenten der Spanier und Engländer in Qualität und Quantität messen können. Aus einem sehr großen Pool an Spielern macht Deutschland vergleichsweise sehr wenig. Und seitdem der katalanische Top-Trainer Guardiola, aber auch andere Fußballfachleute wie Louis van Gaal, Jürgen Klopp, Thomas Tuchel oder Ralf Hasenhüttl das Weite suchen und die Bundesliga nicht länger bereichern, ist der deutsche Fußball in Muster zurückgefallen, die nach den spielerisch und international herausragenden Jahren von 2010 bis 2016 eigentlich überwunden schienen.
Für Talentkritiker.de schrieb ich bereits in der Vergangenheit ausführlich über die Vorteile des Sraßenfußballs, von Spielformen und den Erkenntnissen des „Differenziellen Lernens“. Der DFB täte gut daran, das Ausbildungssystem kohärenter zu gestalten und dafür zu sorgen, dass ein Fußballer, der als Kind immer einen Ball bekommen hat, auch im Wettbewerb so oft wie möglich mit dem Spielgerät interagieren kann. Dabei gilt es auch mit alteingesessenen Dogmen des deutschen Fußballverständnisses zu brechen. Denn im Grunde sind Erwachsenenfußball – der in Deutschland auch ein tiefverwurzeltes Problem in Sachen Spielkultur hat – und Kinder- und Jugendfußball nicht nur verschieden, sondern zwei gänzlich unterschiedliche Sportarten. Das beginnt entscheidend bei der Ausrichtung der Wettbewerbsstrukturen im Kinderfußball und setzt sich fort über den Ergebnisdruck der Nachwuchsleistungszentren im Juniorenbereich. In Sachen Kohärenz stellen sich da viele Fragen, die in anderen Ländern bereits beantwortet worden sind.
Wie sinnvoll ist es, Kinder, die im Training ihren eigenen Ball haben, am Wochenende 7 vs. 7 spielen zu lassen? Es ist außerordentlich fraglich, wie viele Ballkontakte ein Siebenjähriger in einem Spiel 7 vs. 7 tatsächlich hat und wie viele ihm davon so gelingen, dass er den Ball danach auch sauber spielen kann. Wahrscheinlich lässt sich das in einem Knäuel von zwölf Spielern im Feld, die wie wild dem Ball hinterherjagen – denn Kinder haben aus intrinsischer Motivation heraus Guardiolas Weisheit bezüglich des Spiels 11 vs. 11 mit einem Ball noch nicht vergessen, bis ihnen abtrainiert wird, den Ball haben zu wollen – und zwei auf die Linie getackerten Torhütern pro Spiel an einer Hand abzählen.
Bedeutend sinnvoller sind kleine Spielformen wie z.B. das sogenannte Funino, aber auch so ziemlich jede Form des klassischen 4 vs. 4. Das Funino wird im 3 vs. 3 gespielt, wobei jedes Team zwei Tore zum Angreifen und zwei zum Verteidigen hat. Ergänzt wird diese Spielform um für Kinder sehr leicht verständliche Regeln, die für dynamische Über- und Unterzahlsituationen sorgen: Erzielt ein Team ein Tor, verliert es für kurze Zeit einen Spieler. Kassiert es ein Tor, bekommt es einen Spieler hinzu (bis zur Maximalanzahl von drei Spielern). Viele Trainer wären wohl überrascht, wie schnell die Kinder in dieser Spielform selbst auf grundlegende Prinzipien des Positionsspiel kommen und wie schnell sie erkennen, wann es sinnvoll ist zu dribbeln und wann es sinnvoll ist, zu passen. Ein erster Schritt wäre also, Wettbewerbe konsequent und verpflichtend in altersgemäßen Spielformen auszutragen, statt dogmatisch das 11 vs. 11 des Herrenfußball als Vorbild für Wettbewerbsformen für Kinder zu bemühen. Eine dynamische Abstufung würde Kuriositäten wie die Tatsache, dass in Deutschland Dreizehnjährige in der D-Jugend auf die selben Tore wie Sechsjährige in der G-Jugend spielen, endlich und zu Gunsten der Kinder und Jugendlichen beerdigen. Die Frage, ob Spiele in kleineren Feldern mit kleinerer Spieleranzahl für die Entwicklung junger Fußballer zuträglich ist, hat die Sportwissenschaft schon länger für sich beantwortet und bescheinigt den Akademien von Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona – beides Vereine im Geiste des Positionsspiels – die Wirksamkeit ihrer Methodiken. Dass ein ballbesitzorientiertes Positionsspiel dafür sorgt, dass Talente sich optimal entwickeln, lässt sich empirisch nachweisen.
Nicht unwesentlich für den Erfolg der ballorientierten Ausbildung sind dabei die Spiele auf verkleinertem Feld mit geringer Spieleranzahl. Bereits 2006 ermittelte ein Paper der University of Abertay Dundee die Unterschiede zwischen einem 4 vs. 4, 7 vs. 7 und 11 vs. 11 hinsichtlich der Ballaktionen der einzelnen Spieler. Die Testgruppe waren schottische U12-Spieler, deren Talententwicklung in verschiedenen Spielformen verglichen wurde. Die Studie ergab, dass die Spieler in einem 4 vs. 4-Spiel 3,9 mal häufiger eine Ballaktion hatten, als in einem 11 vs. 11 und noch rund doppelt so häufig, wie im 7 vs. 7. Auch der englische Fußballverband FA kam zu diesem Ergebnis. Während im Spiel 11 vs. 11 der Ball zu 34,62% der Zeit nicht einmal im Spiel war und die Spieler nur 0,60 Ballberührungen pro Minute hatten, war der Ball im 4 vs. 4 (+Torhüter) lediglich 1,78% der Zeit aus dem Spiel und die Spieler durften sich über 2,73 Ballberührungen pro Minute freuen. Auch der englische Rekodmeister Manchester United ließ im Bereich der Kleinfeldspiele forschen und kam zu ähnlichen Ergebnissen. Sie verglichen das 4 vs. 4 mit dem 8 vs. 8 und kamen zu dem Ergebnis, dass im 4 vs. 4 ganze 135% mehr Pässe gespielt wurden, 260% häufiger auf das gegnerische Tor abgeschlossen wurde, 500% mehr Tore fielen, 1 vs. 1-Situationen 225% häufiger vorkamen und die Anzahl versuchter oder abgeschlossener Dribblings ebenso 280% höher lag. All das sind sehr eindeutige Zahlen, wenn es darum geht, dass Spieler im Training möglichst viele Ballaktionen haben. In einem Spiel 11 vs. 11 verbringt ein Spieler auf regulärem Platz (sprich volle Größe) 98,3% der Zeit ohne den Ball (Critchell, 2011). Das deckt sich nicht nur zufällig mit den Werten aus der Bundesliga. Dabei ist es das klar erklärte Ziel des DFB, jedem Spieler im Kindesalter möglichst viele Ballaktionen zu gewährleisten. Ob das 7 vs. 7 dafür also geeignet ist, kann jeder für sich selbst beantworten – die Wissenschaft hat dazu jedoch eine eindeutige Meinung.
Rinus Michels und später Johan Cruyff kannten zwar die aktuellen Zahlen nicht, sie hatten jedoch beide eine außerordentliche Intuition, wenn es um die Wertschätzung von kleinen Spielformen, Rondos und Positionsspielen in der Talententwicklung geht. Nachdem beide sowohl bei Ajax Amsterdam, als auch beim FC Barcelona ihre Spuren hinterlassen hatten, stiegen beide Clubs zu den erfolgreichsten Talentschmieden des Kontinents auf. Das Positionsspiel und die Liebe zum Ball spielte dabei eine entscheidende Rolle. Wenn heute ein 20-Jähriger Absolvent der Jugendakademie „La Masia“ des FC Barcelona in die erste Mannschaft übernommen wird, dann hat er, wenn er wie üblich mit dem 10. Lebensjahr in den Club gekommen ist, 5600 Stunden mit Fußball verbracht, die ihm das Positionsspiel beigebracht und dadurch handlungsschnell und -sicher, spielintelligent und entscheidungsfreudig gemacht haben (Perarnau, 2011). Auseinander dividiert bestehen diese 5600 Stunden aus 1000 Stunden Kommunikationsspielen, 1000 Stunden Rondos, 1750 Stunden taktischem Positionsspiel, 1250 Stunden in kleinen Wettbewerbsspielformen wie dem 4 vs. 4 und nicht zuletzt 600 Stunden auf dem Platz in offiziellen Spielen gegen Gegner in der Liga. Dass der Sprung in die erste Mannschaft, die der gleichen Philosophie folgt, so deutlich leichter fällt, sagt schon der gesunde Menschenverstand.
In Deutschland regiert aber weiter die Angst statt dem Mut zum Risiko einen berechtigten Platz zuzugestehen. Nicht zuletzt die Angst vor Abstiegen treibt Trainer dazu, den Ausbildungsgedanken den Ergebnissen hintenanzustellen. Dabei sind Auf- und Abstiege in einem Ligensystem im Jugendbereich besonders fraglich, denn sie stellen einen unweigerlich vor die Problematik, dass aufrückende Jahrgänge in Ligen spielen müssen, die für den vorherigen Jahrgang wahlweise zu einfach (Auftsieg), genau richtig (Klassenerhalt) oder zu schwierig (Abstieg) waren, die aber für den aufrückenden Jahrgang vollkommen andere Gegebenheiten mitbringen. So ist es nicht selten, dass in Breitensportvereinen ein Jahrgang in Serie in C-, B- und A-Jugend aufsteigt, im darauffolgenden Jahr selbst aber wieder in einer niedrigeren Klasse spielt, während der nachrückende Jahrgang sang- und klanglos wieder absteigt. Wer nun argumentiert, dass Kinder und Jugendliche Aufstiegsmöglichkeiten als Erfolgserlebnisse brauchen würden, dem sollte auch aufgehen, dass es wohl sehr frustrierend ist, nach einer harten Saison verdient in die höhere Klasse im B-Jugend-Jahrgang aufzusteigen, nur um in der A-Jugend wieder in der Kreisliga zu spielen und beobachten zu dürfen, wie die Nachfolger in der neuen B-Jugend an jedem Wochenende höher verlieren, als EA Guingamp bei Paris SG. Meldungen nach Spielstärke oder alternativ Qualifikationsrunden wären hier bedeutend sinnvoller.
Darüber hinaus würden Vereine, die im unteren Jugendbereich gut arbeiten, ihre Spieler aber regelmäßig an breitensportliche Lokalrivalen verlieren, weil sie im C-, B-, oder A-Jugend nicht in höheren Ligen spielen, davon profitieren. Der Anreiz, im Kinderfußball ergebnisunabhängiger und besser zu arbeiten, wäre somit gegeben und würde den Talenten zu Gute kommen. Voraussetzung dafür wäre, dass die Teams des älteren Jahrgangs der Nachwuchsleistungszentren, wie in England auch, in eigenen NLZ-Ligen – die ebenso über eine Meldung nach Spielstärke und mit Rücksicht auf die Entfernungen am Spieltag selbst zusammengestellt werden – spielen und aus diesen auch nicht absteigen können. Diese Maßnahme würde dafür sorgen, dass auch in den NLZ-Ligen der Fokus auf der Ausbildung und der Umsetzung der Spielphilosophie eines Vereins liegt und nicht auf der Verhinderung des Abstiegs durch destruktiven Ergebnisfußball. Der Fußball würde mutiger, variantenreicher und weniger von Angst geprägt werden. So würde es nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen, wenn der Fummelkopp mal wieder am Gegenspieler hängen bleibt und das Kind, das den Ball nur passen darf, selbstständig lernt, wann es sinnvoll ist den Ball abzuspielen.
Literatur
Critchell, M (2011), The Blizzard Magazine issue 3.
Sunderland:
Fengolio, N. (2003), The Manchester United 4 vs. 4 Pilot Scheme For Under-9s: Part II The Analysis.
Manchester: Manchester United
Carling, C. (2010), zitiert in: „Fußballer ohne Ball“ (Mrasek, V.).
Köln: Deutschlandfunk
Perarnau, M. (2011), Las fases del aprendizaje.
Spanien: martiperarnau.com
Perarnau, M. (2014), Herr Guardiola – Das erste Jahr mit Bayern München
München: Kunstmann (Verlag)
Schmidt. E., (2016), Bilderbuch Jugendfußball? – Ein Blick auf Deutschlands Heiligtum.
Deutschland: Spielverlagerung.de
Small, G. (2006), Small-sided Games Study of Young Football Players in Scotland.
Dundee: Univesity of Abertay Dundee
Stulvenberg, A. (2008), The Dutch Vision On Youth Development.
Amsterdam: KNVB Academy
Turner, T. (2012), Small-sided Games.
Ohio: Ohio Youth Soccer Association North
Statistiken & Tabellen: Sport.de
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Christian Dobrick arbeitet aktuell als Mitarbeiter des Nachwuchsleistungszentrum für die TSG 1899 Hoffenheim. In der Vergangenheit war er zuletzt als Co-Trainer in der U17 und der U19 von Holstein Kiel tätig. Dobrick ist mit 24 Jahren einer der jüngsten Trainer der U-Bundesligen und blickt auf mehrjährige Erfahrung im Aufbau- und Leistungsbereich in Nachwuchsleistungszentren zurück. Der Sportwissenschaftsstudent ist Inhaber der Elite-Jugendtrainer-Lizenz, Speaker für den SHFV und vielfach zitierte Stimme in Fachbüchern.
