
Außenverteidiger müssen schnell sein, Innenverteidiger dafür nicht so sehr, aber physisch umso stärker, ein Zehner muss klein und wendig sein, ein Stürmer braucht nur einen guten Abschluss. Augenscheinliche Volksweisheiten wie diese führen oft dazu, dass ein Fußballspieler, der eine spezifische Position spielen soll, aber dem oberflächlichen Stereotyp dieser nicht entspricht, als ungeeignet empfunden wird. Gleichzeitig gibt es aber auch näher am Geschehen qualitativ hochwertigere Diskussionen, die verschiedene Trends beobachten, begründen und ausrufen. Aber auch hier besteht die Gefahr, dass man angesichts der Befangenheit in solchen Trends, die ja meist Frische und Innovation versprechen, (temporär) blind wird für andere Möglichkeiten. Aktuell setzt sich zum Beispiel langsam die Erkenntnis durch, dass ein Außenverteidiger nicht nur immer schnell den Flügel auf- und abmarschieren muss, sondern sich zum Wohle der Mannschaft vor – bedingt durch die in der geometrischen Natur seiner Grundpositionierung begründeten Eingeschränktheit der Richtungen – komplexe Aufgaben stellen kann. Pep Guardiola tat das eindrucksvoll mit Philipp Lahm und David Alaba im Sinne einer diagonaleren Orientierung der Außenverteidiger, und die Auffassung von Außenverteidigern als Spielmachern gewinnt wachsenden Anklang. Nun ist es aber wichtig, zu begreifen, dass diese Auffassung nicht zwingend bedeutet: Ich brauche immer Außenverteidiger, die enorm dribbelstark sind und auch in engen Situationen ins Zentrum ziehen können. Vielmehr wendet sich diese Auffassung von einer spielrichtungs-gebundenen Sichtweise ab und konzentriert sich auf situationsgebundene statt prinzipielle Aspekte. Ein möglicher Spielertyp hier ist die unspektaktuläre, tiefstehende, recht statische Interpretation des Außenverteidigers.
Catenaccio-Konnotation
Giuseppe Pizza aus San Gennaro Vesuviano, das klingt für das deutsche Ohr schon sehr melodisch, vor allem italienisch und passt wegen dieser Konnotation auch recht gut ins Bild. Über den Linksverteidiger aus Neapel mit dem guten Namen, der im Januar 2000 geboren wurde, ist hierzulande nicht ganz so viel bekannt: Er spielt seit mindestens zwei Jahren für den SSC Neapel, war Stammspieler in deren U17 und kommt aktuell ab und an in der U19 zum Einsatz. Glücklicherweise aber findet sich in den Weiten des Internets einiges an brauchbaren Videomaterial, in dem Pizza zu sehen ist, und welches hier eine Talentkritik ermöglicht.
Pizza, gefördert von den Trainern Massimo Carnevale, einem ehemaligen Serie B-Spieler, und Loris Beoni, der zuvor neun verschiedene unterklassigere italienische Teams trainierte, debütierte im September 2016 für die U17 des SSC und im November 2017 für die U19, im Youth League-Spiel gegen Manchester City.
Unspektakuläres Werkzeug
Als Catenaccio wird eine ursprünglich und hauptsächlich italienische Spielphilosophie bezeichnet, die sehr auf den Prinzipien feste Ordnung und Reaktion beruht. Deswegen passt der erste italienische Eindruck beim Namen Pizzas eben auch hinsichtlich seiner Spielanlage gut ins Bild, denn (rudimentär) ähnlich zum Catenaccio ist Pizza ein Spieler, der in letzter Konsequenz einen recht kleinen Aktionsradius hat, selten die Eigeninitiative ergreift und vornehmlich auf in der Ausführung unanspruchsvolle Lösungen zurückgreift.
Das klingt unspektakulär, ist es für den Zuseher auch. Pizza verfügt über kein außergewöhnliches Skillset, ist eher simpel gestrickt: Durchschnittlich schnell, knapp unterdurchschnittlich technisch begabt (das bedeutet in diesem Fall konkret die Fähigkeit den Ball sicher und effizient kontrollieren zu können, allerdings nur unter Gegner- und Raumdruck, der eine gewisse Orientierunszeit erlaubt) und eine physische Beschaffenheit, die ihm zeitlich wie qualitativ wohldosierten Einsatz seines Körpers erlaubt, mit einer großen Spannweite nach oben. Pizza ist also ein Spieler, der es sich nicht leisten kann, über zu viel Raum ein Laufduell aufzunehmen oder sich auf engem Raum kombinativ zu beteiligen, der aber durchaus im schon eingeleiteten 1-vs-1 als defensiver Teilnehmer über gute Möglichkeiten verfügt.
Was bedeutet das im Zusammenhang des Spiels für Giuseppe Pizza?
Die ersten Effekte sind klar und bereits genannt: Pizza ist in seinen Aktionen, defensiv wie offensiv, unspektakulär. So etwas wie Spektakel gewinnt er erst, wenn er als Werkzeug eines Systems benutzt wird – er ist somit ein vielleicht perfektes Beispiel für den Begriff “Mannschaftsspieler“, wenn man diesen wertfrei auffasst. Das muss veranschaulicht werden:
Als recht statischer Spieler auf der linken Außenverteidigerposition ist Pizza zwar auf der einen Seite nicht flexibel, auf der anderen Seite aber verlässlich. Er bildet – wenn man so will – eine Art Fixpunkt, vor allem defensiv. Durch seine sich hauptsächlich am ballfernen Innenverteidiger orientierte vertikale Höhe sorgt er für eine defensiv für einen “Anker“, er ist bei gegnerischen Angriffen über seine Seite immer schon tief, was zweierlei Effekte hat: Erstens ist hierdurch dafür gesorgt, dass die Innenverteidiger nicht so sehr nach- bzw. durchrücken müssen, da Pizza ja ohnehin nicht hoch steht und auch äußerst selten hoch anläuft. Das führt in erster Linie einmal zu viel positioneller Stabilität und lindert Missverständnisse innerhalb der Viererkette in Absprache und Timing deutlich. Zweitens, und diese Frage hat sich der aufmerksame Leser sicher schon gestellt, führt Pizzas Grundhaltung zu Konsequenzen vor ihm: Um nicht zu viel Raum zu öffnen, muss entweder der linke Mittelfeldspieler tief stehen und deshalb vor diesem der Stürmer nach außen pressen und lenken, oder aber der linke Mittelfeldspieler bleibt normal hoch und einer der Sechser rückt nach außen – beide Szenarios erfordern freilich auch im restlichen Kollektiv Bewegungen, um kompakt zu bleiben, allerdings spielen sich diese sich höher und somit mit weniger direktem Raumeinfluss zum eigenen Tor ab als Bewegungen in der letzten Linie.
Offensiv bedeutet Pizzas tiefe Positionierung grundsätzlich immer das Bestehen eines horizontalen Passwegs beim Spielaufbau über den Torwart oder den Innenverteidiger, hiermit kann ein hohes Anlaufen und dadurch die Entstehung von ballfernen Räumen provoziert werden. Besonders an dieser Stelle, aber auch für den Defensivbereich gültig, wird deutlich, dass eine Asymmetrie in der Positionierung von großem Vorteil, wenn nicht sogar unabdingbar für die Sinnhaftigkeit Pizzas Rolle, ist. Die Vorteile sind im Effekt vor allem geometrischer Natur, wirken aber schlicht durch die massive Erschwerung einer prinzipiellen, kollektiven Ordnung auf Gegnerseite – sowohl offensiv, als auch defensiv. Und mit Pio Schiavi und Michael Scarf verfügt die U19 des SSC über zwei spielstarke Außenverteidiger, die auf der rechten Seite den Gegenpart zu Pizza geben können: Als diagonal und hoch orientierte Außenverteidiger, die kein Anker, sondern ein Aktivposten im Spiel der Neapolitaner sind.
Kein Sinn für Sarri
Eine letzte Frage muss definitiv gestellt werden: Warum wird so eine bisher primär taktische Überlegung an einem Jugendspieler des SSC Neapel aufgehängt? In erster Linie wurde mir durch die eher zufällige Rezeption des Spiels Neapel gegen ManCity in der Youth League der Wert einer Asymmetrie vor Augen geführt. Weiterführend konnte dann Pizza als spannendes Element dieses Mittels ausgemacht werden und durch die genauere Betrachtung des 18-Jährigen wurde deutlich, dass dieser seine Rolle wirklich konsequent ausfüllt. Unklar ist natürlich, inwiefern er bewusst in diese Prozesse einbezogen ist, aber es scheint, als wäre er einfach ein sehr vernünftiger, pragmatischer Spieler: Pizza weiß sehr genau um seine Fähigkeiten, er versucht nicht, eine Rolle auszufüllen, die er nicht ausfüllen kann – und trifft seine Entscheidungen stets so, dass das zum großen Ganzen passt. Das heißt beileibe nicht, dass er nie Fehler machen würde oder seine Aktionen gewinnbringend wären, aber Pizza ist einfach sehr konsequent in seiner Rolle, bleibt sich selbst treu und stellt so ein verlässliches Werkzeug dar. Ein Maurizio Sarri erkennt solche Dinge sicherlich noch deutlich besser und differenzierter als ich, hat aber im Moment wohl wenig Sinn für Experimente wie diese.
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Lukas Brandl ist U13-Cheftrainer im NLZ des SV Wacker Burghausen. Der B-Lizenz-Inhaber studiert Bildungswissenschaften und begeistert sich für die Vielschichtigkeit des Fußballs aus Spieler- und Trainerperspektive. Für den dienstältesten Talentkritiker besitzen Individualität und Differenziertheit bei Aspekten der Potentialentfaltung einen hohen Stellenwert.
