
„Fußball ist eine Art von ästhetischer Erfahrung. (…) Die hat drei Elemente: Das erste Element heißt, (…) ‚interesselose Erfahrung‘. (…) Die Erfahrung ist abgekoppelt von allen Alltagsinteressen – (…) das Ergebnis des Spiels und die Erfahrung des Spiels hat absolut nichts zu tun mit meinen Alltagsinteressen, mit meinem Bankkonto, mit meiner beruflichen Reputation (…). Zweitens, sagt Kant, ist es eine Erfahrung, in der man ständig Urteile fällt. „Das war ein gutes Spiel, das war ein schöner Spielzug (…). Man hat für diese Urteile aber keine quantitativen oder qualitativen Kriterien. Man kann nicht sagen, ein Spiel wie gegen Legia Warschau geht 8:4 aus und ist deswegen gut oder ein Spiel geht 2:1 aus und ist deswegen schlecht. Und drittens sagt Kant (…): Wenn wir sehen, dass wir mit jemanden nicht übereinstimmen, in diesem ästhetischen Urteil (…), dann erheischen wir Konsensus. Das heißt, wenn mir jemand bei einem sagt, das ich großartig fand „Das war aber nicht so gut!“, dann kann ich das gar nicht verstehen und möchte den unbedingt überzeugen.“
– Hans Ulrich Gumbrecht
Deutsch-amerikanischer Romanist, Literaturwissenschaftler, Literaturhistoriker, Hochschullehrer und Publizist, Lehrstuhl für Komparatistik der Stanford University
Zitat: „Spielkultur mit Thomas Tuchel“, 30.03.2017 bei DFB-TV
Fußball – das globale Thema, lässt man die große Weltpolitik und den Klimawandel einmal außen vor. Ein Spiel, das nahezu alle fasziniert, die mit ihm in Berührung kommen, und dessen Magie sich kaum jemand entziehen kann, sobald er nur ein einziges mal mit der Atmosphäre in den größten Sporttempeln der Welt in Berührung gekommen ist. Spieler, Trainer, Funktionäre und nicht zuletzt die Fans sind fasziniert von der gewaltigen Eigendynamik, die der beliebteste Sport der Welt in den letzten dreißig Jahren entwickelt hat. Über kaum ein Thema wird so eifrig gestritten wie über den Fußball. Und doch: Fußball verbindet – und das ist mehr als eine Marketing-Phrase der FIFA. Jeder, der einmal im Urlaub, auf Rucksackreisen oder aus anderen Gründen in einem anderen Teil der Welt gewesen ist und mit den Einheimischen Fußball gespielt hat, wird das bestätigen können. Ob in Deutschland, Argentinien, Ghana oder Japan: Kommt man auf einen Fußballplatz, egal ob gepflegter englischer Rasen, Staubplatz oder gepflasterter urbaner Hinterhof, und wirft einen Ball in die Mitte, muss man die Sprache des Landes nicht mehr sprechen, um sich zu verstehen. Jeder kennt die Regeln. Jeder weiß, was jetzt kommt. Kommunikation auf dem Platz findet mit Händen und Füßen und nicht zuletzt dem Ball am Fuß statt. Nationalitäten, Religionen, Hautfarben und Ethnien spielen keine Rolle mehr. Pässe sagen mehr als Worte, Tore rufen Jubelschreie in den verschiedensten Sprachen und Dialekten hervor. Sport hat unbestritten eine großartige integrative Kraft, die Gesellschaften enger zusammenrücken lässt, selbst wenn es soziale, politische oder kulturelle Verwerfungen innerhalb eines Landes gibt – Fußball als Weltsportart dabei allen voran. Die WM 2006 in Deutschland ist ein Paradebeispiel für die einigende Kraft, die Volkssportarten seit je her haben können. In einer globalisierten Welt ist diese Kraft selbstverständlich nicht nur internationaler, sondern auch national begrenzt intensiver geworden. Nicht zuletzt durch die absolute Allgegenwärtigkeit des Fußballs, die andere Sportarten durch die gigantischen Events, Transfers und Summen, die im Fußball nicht mehr wegzudenken sind, zu verschlucken droht. Rund um die Uhr läuft Fußball im Fernsehen oder Internet und rund um die Uhr wird über Fußball diskutiert – leidenschaftlicher als über so manche politische Entscheidung, die Schicksale von Millionen Menschen beeinflussen wird.
Während sich alle über das „Was“ einig sind – nämlich Fußball und nicht zuletzt den Sieg zu erringen – ist das „Wie“ im Fußball nämlich einem ständigen sportlichen Kulturkampf unterworfen. Seit es den Fußballsport gibt, ist er der Gegenstand einer ständigen philosophischen Debatte, die sich einzig und allein um die Frage dreht, „Wie“ der Fußball gespielt werden sollte. Welcher Fußball ist der richtige? Muss Fußball schön sein oder nur effektiv? Für wen spielen wir Fußball? Für die Spieler auf dem Platz? Für das Team oder doch nur für unseren individuellen Erfolg? Haben Trainer eine Verpflichtung, ihre Teams so spielen zu lassen, dass die Zuschauer es genießen, zuzuschauen? Die Ansichten darüber könnten nicht unterschiedlicher sein: Von idealistische Fußballästheten wie Marcelo Bielsa, für die es eine Qual wäre, das rein numerische Ergebnis über die Schönheit des Spiels zu stellen, über kühle Pragmatiker wie José Mourinho, für die es eine Freude ist, dem Gegner nicht das zu geben, was er will und für die gleichzeitig ein dreckiges 1:0 genussvoller ist, als ein spektakuläres 5:3, bis hin zu ideologischen Eklektikern wie Pep Guardiola, der den Zufall im Spiel zu seinem erklärten Feind gemacht hat und für den die Schönheit des Spiels zwar Instrument, nicht aber Selbstzweck ist. Denn ihr unglaublicher Ehrgeiz verbindet Ideologie mit Pragmatismus. Was ist wichtiger? Den Ball zu kontrollieren oder den Raum zu kontrollieren? Agieren oder reagieren? Benötigt man den Ball, um agieren zu können? Eine Diskussion, die es bereits seit den 1930er Jahren gab und die sogar ganze Staaten fußballphilosophisch quasi in der Mitte gespalten hat. Beide Standpunkte scheinen ihre Berechtigung zu haben und doch macht es hinsichtlich der Talententwicklung einen massiven Unterschied für das Talent, welchen Standpunkt der eigene Trainer oder Club vertritt und was sie als Spielmittelpunkt des „schönen Spiels“ für sich und ihre Spieler definiert haben – oder ob sie überhaupt eine Definition vorgenommen haben.
Der FC Barcelona und Ajax Amsterdam gingen schon sehr früh eigene und rigorose Wege, was die Definition ihrer Philosophie angeht. Und obwohl sich für diese Vereine mit einigem zeitlichen Abstand der Einführung einer konsistenten Vereinsphilosophie auf dem Platz Erfolge an Erfolge reihten, sind sie überraschenderweise bisher durchaus eine Ausnahme im Weltfußball. Besonders in Deutschland sind Vereine, die eine konsistente Spielphilosophie etabliert haben, die von der Profimannschaft bis zur untersten Jugendmannschaft reicht und klare Spielertypen definiert, mit denen diese Philosophie umgesetzt werden soll, die absolute Ausnahme. Dabei hat Deutschland durchaus eine lange fußballphilosophische Debattengeschichte, was das „Wie“ angeht und war dahingehend einem stetigen Wandel unterworfen, wie Spielverlagerung.de-Autor Tobias Escher in seinem Buch „Vom Libero zur Doppelsechs – Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs“ gelungen porträtiert. Und während der FC Barcelona und Ajax Amsterdam mit ihrer konsistenten Philosophie in der Vergangenheit und Gegenwart Erfolge feiern, erfährt auch der deutsche Fußball nach und nach eine klare fußballphilosophische Identitätsbildung einiger weniger Clubs. Mit RB Leipzig entstand 2009 ein Club am Reißbrett, der durch sämtliche Jugendmannschaften eine klare Philosophie verfolgt und damit in der Jugend, in der vergleichsweise sehr jungen Clubgeschichte bereits große Erfolge feiert, auch wenn diese Jugendarbeit noch nicht bis in die Profimannschaft von Ralf Ragnick hineinreicht. Was sagt uns also dieser ergebnisorientierte Erfolg zweier so verschiedener Philosophien – Ball und Raum als konträr gedachtes ideologisches Charakteristikum – über die Wichtigkeit von Philosophien im modernen Fußball? Über die Wichtigkeit von Ideologien und dem Willen, gegen Widerstände an ihnen festzuhalten?
Die „Konter-Bundesliga“
„Jede deutsche Mannschaft lässt dich in einen Konter laufen, dass dir die Luft wegbleibt, und wenn wir dann getrennt stehen, werden sie uns überrennen.“
– Pep Guardiola
Zitat: ZEIT Online vom 28.08.2014, „Der Master-Planer“ von Martí Perarnau
Die deutsche Fußballkultur ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Kultur des Konterfußballs geworden. Es hat eine lange Tradition in Deutschland, dynamischen Fußball, der körperlich und kämpferisch auf den Platz gebracht wird, als eine Art Idealbild zu sehen und Strategie und Taktik der Mentalität und dem Kampf unterzuordnen. Das war nicht immer unproblematisch, denn es ist hinsichtlich dieses allgemeinen Fußballverständnisses kein Wunder, dass der deutsche Fußball sich taktischen Neuerungen wie der Raumdeckung lange versperrt hat – und um die Jahrtausendwende dafür die Quittung bekam. Dieses Idealbild geht sogar soweit, dass Fußballstile, die gemeinhin als unattraktiv verstanden werden, zum Beispiel beim FC Schalke 04 der Saison 2017/2018 heroisiert werden. Die Spieler von Trainer Domenico Tedesco spielten einen athletischen, auf die Kontrolle der Umschaltmomente ausgerichteten Fußball, der vielen S04-Fans wohl das Herz aufgehen ließ, weil die Profis offenbar genauso malochten, wie es die Arbeiter in den Gruben der vergangenen Glanztage des Ruhrgebiets taten. Fußball als ein Abbild der Identität der Gesellschaft, in der er gespielt wird. Wahrscheinlich ist es aus dieser Geisteshaltung heraus kein Wunder, dass Spielweisen, die eine längere Anlaufzeit benötigen, es in Gelsenkirchen in der Vergangenheit immer schwer hatten. Gelang etwas nämlich nicht sofort, kollidierte das mit der Identität der Fans auf den Rängen, denn es schien, als würden die Profis auf dem Rasen einfach nicht genug „kämpfen“.
Jedoch ist die Erkenntnis, dass Fußball oftmals ein Spiegelbild der Regionen, Länder und ihrer Kulturen ist, in denen er gespielt wird, und das ganze Nationen unterschiedliche kollektive Idealbilder eines „schönen Spiels“ haben – ebenso wie Trainer – außerordentlich wertvoll. Denn es erklärt, warum Talente mit einem gewissen Spielerprofil aus dem einen Land sich als Profis durchsetzen, während sie in anderen Ländern, Vereinen oder Regionen keine Chance hätten. Nicht umsonst hält sich gegenüber Lionel Messi bis heute hartnäckig der Vorwurf, er sei nie vom FC Barcelona weg gewechselt, weil er mit den Fußballkulturen außerhalb der spanischen La Liga nicht klar kommen würde. Ob das nun tatsächlich so ist, sei einmal dahingestellt, denn es gibt Statistiken die durchaus für diese These sprechen (z.B. wenn die Gegner Liverpool oder Chelsea hießen), aber auch welche, die das zu widerlegen scheinen (z.B. wenn der Gegner Arsenal hieß).
Der deutsche Fußball jedoch hat taktische Mängel. So hinkt die Bundesliga nach dem Hoch des „Heavy Metal-Fußball“ von Jürgen Klopp und dem Positionsspiel von Pep Guardiola im internationalen Vergleich taktisch wieder ein Stück weit hinterher. Denn nach diesen beiden personifizierten Fortschrittsmotoren kamen nur wenige weitere Innovatoren und Persönlichkeiten, die dem deutschen Fußball eine neue Dynamik verliehen. Die in Deutschland verwurzelte Fußball- und Arbeitskultur hemmt die Entwicklungsfreude. Der deutsche Fußball ist enorm ergebnisorientiert und steht dem Fortschritt und der Veränderung sehr kritisch gegenüber, solange alles noch halbwegs gut funktioniert. Solange es nicht richtig kracht, sehen nur wenige den Zwang zur Innovation. Und so begnügen sich viele Bundesligisten damit, den Raum zu kontrollieren und ihren Gegnern den Ball zu überlassen, um überfallartig Konter zu fahren und so zum Erfolg zu kommen. Eigentümlicherweise ist diese Idee, die einen Großteil der nationalen Liga auszeichnet, dann auch noch komplett konträr zu dem, was die Nationalmannschaft seit der Niederlage gegen die Spanier 2010 unter Joachim Löw zu spielen versucht und womit sie 2014 auch erfolgreich gewesen sind – dem ballorientierten (Positions-)Spiel. Während in der Bundesliga Woche für Woche überwiegend gekontert wird, spielt die Nationalmannschaft mit dem Ball am Fuß und möchte den Ball kontrollieren (nimmt man den Confed-Cup 2017 mal aus). Die reine Ergebnisorientierung geht sowohl bei den Profis, als auch bedauerlicherweise im Kinder- und Jugendfußball über den Mut, taktisch etwas zu riskieren und zu erneuern. Das „Wie“ ist oftmals vollkommen egal – nur das „Was“ zählt. Der DFB definierte für sich seine sogenannten „spielerischen Leitlinien“, die eine allgemeine, grobe Spielvision und ihre Offensiv- und Defensivprinzipien formulierte. Diese Leitlinien werden als Grundlage jeder Trainerausbildung an den Sportschulen gelehrt werden. Auch hier ist auffällig, dass die festgelegten Leitlinien, die zwar an sich äußerst allgemein gehalten wurden, bei denen man aber trotzdem die Handschrift der „Mannschaft“ erkennen kann, den bereits Jahre andauernden Trends der Bundesliga zum Teil zuwiderlaufen. Denn bereits die erste Leitlinie der sogenannten „Spielvision“ lautet: „Wir wollen den Ball!“ – was auf viele Bundesliga-Teams dann doch eher nicht zutrifft. Dabei wäre es wichtig für den DFB als Verband, dass eine nationale Spielvision definiert würde, die den nationalen Spielweisen und somit auch der Ausbildung in den Vereinen eher entsprechen würde. Die andere, wesentlich aufwändigere und mit viel mehr Widerstand verbundene Alternative wäre, den Vereinen die Spielvision vorzuschreiben.
Kulturell betrachtet ist die Art des deutschen Fußballs in Bezug auf Deutschlands Geschichte wohl sogar einleuchtend, denn kaum einem Volk wird häufiger nachgesagt, es sei auf der einen Seite effizienter und ergebnisorientierter, aber auf der anderen Seite spießiger und konservativer als dem deutschen. In der Vergangenheit war Deutschland weder politisch noch fußballerisch unbedingt der geeignete Ort für progressive Revolutionen. Bis in Deutschland eine Revolution passiert, muss schon einiges im Argen liegen, während andere europäische Nationen, wie zum Beispiel die Franzosen, Revolution in ihrer Geschichte zum Prinzip erhoben haben. Auch sind die Deutschen nicht unbedingt die besten Freunde von Reformen. Alles Neue wird zunächst einmal eher kritisch beäugt, bevor es dann von einzelnen innovativen Köpfen ausprobiert wird – der gesellschaftliche Konservativismus überträgt sich damit auf den Fußball und seine Fans. Dieser Konservativismus spiegelt sich auch in der Haltung und Philosophie der meisten Clubs wieder.
Die Definition einer Philosophie
„Fußball ist im Grunde eine Debatte zwischen Ideen, eine philosophische Debatte. Wichtig ist nicht so sehr, ob man gewinnt oder verliert, sondern der Weg, den man wählt, und die Gründe, warum man diesen Weg wählt. Das Faszinierende am Fußball ist dieser ständige Austausch von Ideen.“
– Noel Sanvicente
Zitat: „Pep Guardiola – Das Deutschland-Tagebuch“ von Martí Perarnau, Ecowin; 9. November 2016
Philosophie ist ein hochtrabender Begriff für eine Sportart, bei der 22 Menschen versuchen, einen Ball auf einem grünen Rasen mit nahezu allen Körperteilen über die Linie ins Ziel zu drücken. Die größten Denker der Welt werden häufig als Philosophen bezeichnet. Von Sokrates und Platon, über Kant und Freud oder gar Karl Marx: Es sind die Namen derer, deren Ideen unsere Geschichte, unsere Gesellschaften und unsere Werte geprägt haben. Ihre Ideen waren so kraftvoll, dass so mancher Mensch bereit war, für ihre Verteidigung sogar die Vernichtung der Welt in Kauf zu nehmen. „Die Liebe zur Weisheit“, so der Begriff ins Deutsche übersetzt, mutet im Kontext Fußball erst einmal fremd an. Diejenigen, die als Fußballphilosophen bezeichnet werden, werden selten ohne einen ironischen oder hämischen Unterton als solche benannt. Und würde man einem völlig Ahnungslosen, der sich zum ersten Mal ein Fußballspiel anguckt, sagen, dass dort auf diesem Acker gerade ein Kampf der Philosophien tobt; er würde einem vermutlich den Vogel zeigen. Fußball ist roh und auf den ersten Blick absolut chaotisch. Es ist laut, manchmal weit weg von guten Manieren, überladen mit Emotionen und Testosteron. Ein Intellektueller ist man als Fußballer bestenfalls bevor und nachdem das Blut aus den Oberschenkeln wieder ins Gehirn gefunden hat – eben vor und nach dem Spiel. Ansonsten werden auch die klügsten Köpfe auf dem Fußballplatz keine abgehobenen, intellektuellen Diskurse führen, denn die mit dem Schiedsrichter oder dem Gegenspieler sind nämlich selten von besonderer inhaltlicher Relevanz geprägt. Intellektuelle Debatten können also nicht gemeint sein, wenn es um den Begriff der Philosophie geht. Doch was meinen all die Fachleute und jene, die sich als solche bezeichnen, wenn sie von einer Spielphilosophie sprechen dann?
Häufig werden Trainern bestimmte Philosophien nachgesagt, ohne dabei wirklich konkret benennen zu können, was das denn sein soll. Ob die sich selbst so bewusst sind, dass sie eine Philosophie haben, sei einmal dahingestellt. Der Vorwurf, keine Spielidee erkennbar gemacht oder weiterentwickelt zu haben, ist aber in den letzten Jahren wohl einer der beliebtesten Gründe gewesen, warum Trainer freigestellt wurden, wenn es gerade nicht lief. Im Sprachgebrauch von Öffentlichkeit und Fans gibt es Konzepttrainer, Laptop-Trainer, Feuerwehrmänner und jene Trainer, die für sich ein Fan davon sind, eine Mannschaft nur das spielen zu lassen, was in ihr drin steckt – was immer das auch heißen mag. Und in den Medien wird der Philosophiebegriff im fußballerischen Kontext mindestens ebenso inflationär benutzt. Nun hat sprachliche Präzision die Fußballberichterstattung noch nie ausgezeichnet. Bis heute ist es zum Beispiel leider immer noch Usus, Grundordnungen in der Umgangssprache mit dem Begriff des „Systems“ gleichzusetzen. Frei nach Pep Guardiola, der Grundordnungen einmal als „Telefonnummern“ verspottete, weil sie eine Philosophie weder beschreiben könnten, noch eine außerordentliche Relevanz dafür hätten, wie sein Team letztendlich auftrete. Denn entscheidend dafür ist in Guardiolas Positionsspiel (oder nach seinem Lehrmeister Juan Manuel Lillo eher „Positionierungsspiel“) die Flexibilität beim Erzeugen von direkten, ballnahen Anspielstationen. Relevant sind also eher die Position des Balles in Relation zu der von Mit- und Gegenspieler. Dem katalanischen Star-Trainer geht es darum, dass in Ballnähe mindestens zwei (oder mehr) – idealerweise diagonale – Anspielstationen und zeitgleich Zugriff auf die Gegenspieler als Antizipation eines möglichen Ballverlustes entstehen, als um eine starre Grundordnung.
Möchte man also konkret fassen, was genau eine Spielphilosophie ausmacht,was der Unterschied zur Vereins- und Ausbildungsphilosophie überhaupt ist, was diese ständig im Fußball umher geisternden Begriffe auszeichnet und warum sie sich in keinem Fall synonym verwenden lassen, muss man erst einmal die Merkmale eben jener Begrifflichkeiten klären. Trainer, Spieler und Verantwortliche benutzen sie nämlich nur allzu gerne als eine Art der Berufssprache – als eine plakative, intellektuell und seriös klingende Rhetorik, um Außenstehende inhaltlich auszuschließen, aber gleichzeitig den Eindruck zu vermitteln, man habe einen klaren Plan. Und viele Medienvertreter weltweit spielen dieses Spielchen nur zu gerne mit – entweder aus dem Unwissen heraus oder wahrscheinlicher, um inhaltlich für Laien eine Komplexitätsreduktion vorzunehmen und somit die Verkaufszahlen zu steigern. Wer eine Philosophie und ein System hat, der wird schon wissen schon was er tut. Und wenn es dann später doch scheitern sollte, dann funktionierte das System eben nicht. Der Nächste, bitte! Diese Ungenauigkeit in der Sprache, die sich im Fußball eingebürgert hat, stört den ein oder anderen Trainer aber erheblich. Besonders Schalke-Trainer Domenico Tedesco ist stets bemüht, konkrete Antworten und genaue Begrifflichkeiten zu verwenden, um das letzte Spiel zu reflektieren. Das führt bei so manchem Fußballfan zu einer Menge Spott, denn wenn er über die zu geringe Präsenz in den Halbräumen oder über die Arbeit mit dem Deckungsschatten im Anlaufen referiert, während andere Trainer gebetsmühlenartig nur die fehlende Einstellung ihres Teams kritisieren, klingt das für „einfache Fans“ wie ein Universitätsprofessor, der gerade seinen Vortrag im Oberseminar hält. City-Trainer Pep Guardiola tickt ähnlich wie Tedesco, benutzt aber – zumindest im Englischen und Deutschen – deutlich weniger Fachtermini, um die Fehler seines Teams aufzuzeigen. Aber auch ihm merkt man bis heute die Frustration auf Pressekonferenzen regelrecht an. Er legt die Stirn in Falten und kratzt sich ärgerlich am Kopf, denn nur allzu oft geht es nur um Banalitäten und Boulevard-Informationen, und viel seltener um konkrete taktische Maßnahmen. Das auch der höfliche Katalane dann schon mal nur mit „What the fuck?“ antwortet, ist wohl nur menschlich, wenn wieder einmal Begriffe und Aussagen falsch verstanden werden oder zum fünfzigsten Mal gefragt wird, ob er gerne die Champions League gewinnen würde. Und als Lothar Matthäus nach dem überragenden 3:1-Sieg der Pep-Bayern gegen Manchester City in der Saison 2013/2014 in einer Kolumne unter der Überschrift „Das Tiki Taka hat München erreicht“ schrieb, zerknüllte Guardiola die Zeitung nur und schmiss sie ohne weiterzulesen in den Müll, wie sein Biograph Martí Perarnau berichtete. Guardiola hasst den Begriff „Tiki Taka“, weil er unpräzise ist. Weil er nicht das beschreibt, wofür er steht. Die Philosophen des Fußballs wollen ihre Philosophien richtig erkannt und benannt und nicht nur populistisch vermarktet sehen.
Um als Trainer, Verein oder Verband also eine konsistente Spielphilosophie definieren zu können, muss auf der einen Seite sichergestellt werden, dass das einerseits möglichst konkret passiert und auf der anderen Seite die Begrifflichkeiten all jenen klar sind, die diese Philosophie verinnerlichen und in die Köpfe der Spieler bringen sollen. Wie schon Noel Sanvicente feststellte, ist der Sieg bei der Definition einer Philosophie kein Kriterium. Zu sagen, erfolgreichen Ergebnisfußball zu spielen, sei die deutsche Philosophie, ist somit am eigentlichen Thema vorbei argumentiert. Das mag man nun als idealistische Fußballromantik verklären, doch ob eine konsistente Philosophie existiert oder nicht, hat , ganz objektiv betrachtet, eben nichts mit Sieg oder Niederlage zu tun. Dieser Schluss ergibt sich aus der inneren Denklogik des Prozesses selbst. Ein Club wie der FC Barcelona kann, hypothetisch gesagt, zwar gegen einen Kreisliga-Club verlieren, aber trotzdem eine klare Spielphilosophie, eine klare Ausbildungsphilosophie im Geiste dieser übergeordneten Spielphilosophie und eine Vereinsphilosophie haben, welche sie konsequent vom siegenden Kreisligisten unterscheiden. Das „Wie“ ist entscheidend, nicht das „Was“. Wenn Mourinho also sagt, seine Philosophie sei das Gewinnen, dann ist er dabei nicht ganz ehrlich. Der Portugiese sieht sich selbst gerne als Antihelden, als Antagonisten zu den Idealisten des Fußballs. Er hat kein Problem damit, „rechten Fußball“ zu spielen, während die Bielsas, Lillos und Guardiolas eher für einen „linken Fußball“ stehen, bei denen alle alles machen. José Mourinho hat jedoch zweifelsohne eine klare Philosophie, die er bereits seit Jahrzehnten überall dort etabliert, wohin er kommt – eine klare Idee, wie er den Sieg erreichen möchte. Ob er nun Außenseiterclubs wie den FC Porto oder den Giganten Real Madrid trainiert, ist für ihn, sowohl was das „Was“ (Gewinnen) als auch das „Wie“ (Raumkontrolle) angeht, vollkommen zweitrangig. Auch Mourinho zählt also zu dem von ihm oftmals verspotteten Kreis der „Dichter“, wie er es nach dem Sieg seiner „Red Devils“ über Peter Bosz‘ Ajax Amsterdam in der Europa League in der Pressekonferenz äußerte – auch wenn er zweifelsohne zu den weniger ideologischen und eher pragmatischen Dichtern des Fußballs zählt. Mourinho, seines Zeichens einer der Pioniere der taktischen Periodisierung, hat jedoch einen eher einen lokalen als globalen spielphilosophischen Ansatz. Seine Philosophie betrifft in aller Regel nur die von ihm aktuell trainierte Mannschaft. Die Strukturen in Ausbildung und Verein seines aktuellen Clubs lässt aber weitestgehend unangetastet, wenn man einmal Ralf Ragnick, Johan Cruyff oder Pep Guardiola als Vergleichsgrößen heranzieht. Daraus ergibt sich, dass der Philosophiebegriff im Fußball durchaus vielseitig sein kann und gewissen Abstufungen in seiner Ganzheitlichkeit unterliegt. Auf der einen Seite beschreibt er die typische Art und Weise, wie in einem kulturellen Kontext in der Tendenz Fußball gespielt wird (Spiel-/Fußballkultur), auf der anderen Seite beschreibt er die konkrete Spielphilosophie eines Trainers, weiterführend aber auch, wie ein Club für sich definiert, wie und welche Spieler er ausbilden möchte. Um nun die einzelnen Aspekte des fußballerischen Philosophiebegriffes im Fußball auseinander zu dividieren, beginnen wir mit dem Oberbegriff der Spielphilosophie.
Die Spielphilosophie
„“El que solo busca la salida no entiende el laberinto, y, aunque la encuentre, saldrá sin haberlo entendido.“
Deutsch: „Wer nur den Ausgang sucht, versteht das Labyrinth nicht, und selbst wenn er den Ausgang findet, wird es es verlassen, ohne es verstanden zu haben.“
– José Bergamín
Spanischer Schriftsteller, Dichter und Dramaturg (30. Dezember 1895 – 28. August 1983)
Zitat: Wikiquote.org, Spanische Version, José Bergamín (zuletzt aufgerufen: 19.11.2018)
Die Spielphilosophie beschreibt das „Wie“, welches ein Cheftrainer seiner Mannschaft für das „Was“ verordnet. Wie wollen wir zum Erfolg (Tor bzw. Sieg) kommen. Aber wie wollen wir aus der denklogischen Fortsetzung dieses Gedankenganges heraus verhindern, dass der Gegner zum Erfolg kommt? Die Spielphilosophie ist in erster Linie vom Cheftrainer abhängig (sofern der Verein nicht selbst eine konsistente Vereinsphilosophie vorweist und die Cheftrainer anhand dessen auswählt) und kann konsistent oder inkonsistent sein. Konsistent ist sie, wenn das „Wie“ bezüglich des Erzielen von Toren mit dem „Wie“ des Toreverhinderns übereinstimmt. Ein Paradebeispiel für eine konsistente Spielphilosophie sind sowohl das Positionsspiel Guardiolas, als auch Ragnicks spielerische Ideen, die er nun in finaler Konsequenz bei RB Leipzig verwirklicht. Guardiola möchte, dass sein Team dem Zufall ein Schnippchen schlägt und Kontrolle ausübt, indem es den Ball kontrolliert, aber zielstrebig vor das gegnerische Tor kombiniert. Dabei sieht er es als seine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass seine Mannschaft bei diesem Prozess die größtmöglichen strukturellen Vorteile hat. Er lässt sehr hoch und mit großem, stetigem Druck auf den Gegner sehr ballorientiert verteidigen und passt die Struktur seines Positionsspiel stets so an, dass eine Überzahl im Zentrum entsteht, damit der Ball ohne großes Risiko gehalten werden kann. Der Ball soll nach dem Ballverlust unmittelbar und so weit entfernt vom eigenen Tor wie möglich zurückgewonnen und gesichert werden. Damit das gewährleistet ist, muss sich seine Mannschaft im Rahmen von vorteilhaften, geometrischen Strukturen anbieten, sich dabei besonders in Ballnähe permanent in Überzahl befinden und gemeinsam aufrücken, um nach einem Fehler unmittelbar eine Überzahl in Ballnähe überzeugen zu können. Guardiola attackiert also, salopp gesagt, enge Räume und verteidigt weite Räume. Wird aber der Ball verloren, sind Guardiolas Spieler bereits da in Überzahl, wo gerade der Ball ist. Kollektiv wird nun gegengepresst, wobei anders als bei Klopp ein weitaus stärkerer Fokus auf dem Schließen von gegnerischen Passlinien liegt, als darauf, sich kollektiv auf den Ballführenden zu stürzen und den ballnahen Raum zusätzlich zu verknappen. Gelingt eine Balleroberung nicht unmittelbar, fallen Guardiolas Spieler in die Ordnung zurück, die Fernsehsender häufig als das „System“ verkaufen (häufig ein 4-3-3, 4-2-3-1 oder 4-1-4-1). Diese Art des Verteidigens ist die Folge seiner Idee, wie er Tore erzielen möchte, nämlich aus der eigene Organisation und Zirkulation heraus. Guardiola möchte das Spiel kontrollieren, indem er den Ball kontrolliert. Damit sein Team nun ständig den Ball kontrolliert, gleichzeitig eng zusammensteht, und Stück für Stück gemeinsam aufrückt und sich in der gegnerischen Hälfte festsetzen kann, halten sie in den ersten zwei Dritteln des Spielfeldes die Positionen (bzw. besetzen die Positionen) und spielen sich viele kurze Pässe in einer zentrumslastigen Grundordnung in eigenem Ballbesitz zu, die sie selbst enger zusammenbringen und den Gegner im Idealfall aus der Ordnung. Die Außen besetzt er in der Regel nur einfach, um mehr Spieler im Zentrum zu haben. Die Grundordnung in Ballbesitz jedoch ist von der Grundordnung gegen den Ball oftmals sogar vollkommen losgelöst – von 3-2-2-3, über 2-3-5 bis hin zu 2-3-2-3 ist alles denkbar und angesichts der Ballbesitzzeiten eines Guardiola Teams, ist die räumliche Verteilung der Spieler mit dem Ball wohl schon fast wichtiger als die gegen den Ball. Auch wenn diese grobe Skizze der Spielhilosophie Guardiolas zugegebenermaßen wohl dafür sorgen würde, dass Pep sich beim Lesen dieses Textes in Anbetracht der vorgenommenen Simplifizierung am Kopf kratzen und die Stirn in Falten legen würde, zeigt sie doch ganz anschaulich, wie eine konsistente Spielphilosophie aussehen kann, welche einen klaren Plan mit an die Hand gibt, was in den Ballbesitzphasen, den Umschaltmomente und im Spielmoment gegen den Ball zu tun ist. Guardiolas Philosophie funktioniert unbestritten hervorragend – der Ergebnissport Fußball gibt ihm dort Saison für Saison recht.
Doch auch Ralf Ragnick mit seiner Philosophie, die das genaue Gegenteil von dem darstellt, was Guardiola für richtig hält, ist konsistent und funktioniert eindrucksvoll. Ragnick nämlich ist, wie er erst kürzlich in der „SPORT BILD“ zu verstehen gab, unter anderem aufgrund von statistischen Erhebungen davon überzeugt, dass lange Ballbesitzphasen und Passstafetten alles in allem sehr ineffektiv seien. Weiter hätten sie maximal eine Berechtigung, damit die Spieler sich ausruhen könnten. Er möchte die weiten Räume attackieren und die engen verteidigen – und somit das genaue Gegenteil von Guardiolas Idee. Das Spiel seiner RB-Maschine ist unglaublich vertikal gehalten und zielt darauf ab, innerhalb von sieben Sekunden nach einer Balleroberung ein Tor zu erzielen. Dafür werden auch schon einmal bewusst Fehlpässe ins letzte Drittel gespielt, nur um dann in diesem letzten Drittel radikal anzupressen und den Ball dort zurückzuerobern. Die Logik: Warum umständlich in den Strafraum kombinieren, wenn man den Ball einfach dorthin bringen und dann erobern kann? Diese Idee vom Angriff (weite Räume attackieren, enge Räume verteidigen) wirkt sich damit auch auf die grundsätzliche Idee vom Verteidigen aus. Der Ball muss aggressiv und so hoch wie möglich erobert werden, dann aber schnell zum Abschluss gebracht, statt wieder zirkuliert werden. Denn bei einem Ballverlust sind die Linien der Leipziger besonders in der Tiefe recht weit von einander entfernt und ein Gegenkonter wäre die fatale Folge. Zwecks dessen werden die Gegner durch Arbeit mit dem Deckungsschatten und durch eine defensive Grundstruktur der Roten Bullen dazu gebracht, Bälle zu spielen, die für eine Eroberung günstig sind (z.B. in enge Räume). RB läuft also sehr zentrumslastig (häufig 4-2-2-2 oder 4-1-2-1-2, neuerdings aber auch 5-2-1-2 bzw. 3-4-1-2) an und zwingt den Gegner zu einem Rückpass, einem unnötigen Querpass oder einem Ball in das engmaschige Zentrum der Leipziger. Der interessante Spielmoment für Ragnicks „Wie“ ist also der Umschaltmoment des gegnerischen Ballbesitzes auf eigenen Ballbesitz (um die Unordnung des Gegners zu nutzen) und für Guardiola der Spielmoment des eigenen Ballbesitzes (bei gegnerischer Ordnung, wobei das Ziel ist, den Gegner durch stetiges Zirkulieren aus dieser Ordnung zu locken).
Es zeichnet also beide „Fußballphilosophen“ aus, dass sie eine konsistente Idee davon haben, wie sie verteidigen und wie sie attackieren wollen und welches Spielmoment dasjenige ist, in denen sie sich wohlfühlen. Das Spielermaterial ist für diese Frage grundsätzlich erst einmal nebensächlich, denn egal welcher Spieler unter diesen Trainern spielt, ihre Philosophie bleibt gleich. Zweifelsohne gibt es taktische Anpassungen an das vorhandene Spielermaterial, die Umweltbedingungen und den Gegner, die grundsätzliche Philosophie verändert sich deshalb aber zu keinem Zeitpunkt. Nur in absoluten Ausnahmen ist Guardiola überhaupt einmal bereit, dem Gegner den Ball zu überlassen, denn für ihn ist es ein Stück weit Verrat an seiner eigenen Idee.
Diese grundsätzlichen Ideen von Fußball – diese Spielphilosophien – lassen sich nun, um sie konkreter zu fassen, klar in Maximen, Prinzipien, Sub-Prinzipien und Sub-Sub-Prinzipien untergliedern – simple „Wenn – Dann“-Regeln, die jeder Spieler eingeimpft bekommt, um sie im unübersichtlichen Spielkontext zielgerichtet umsetzen zu können. Bei dieser Untergliederung geht es darum, sehr komplexe Situationen für Spieler im Sinne der Philosophie zu simplifizieren.
Diese Prinzipiengliederung lässt sich anhand von Guardiolas Spielphilosophie gut erklären:
Unser beispielhaft betrachtetes Spielmoment ist das Umschalten von Offensive auf Defensive, sprich das Reagieren auf einen Ballverlust. Die Philosophie Guardiolas verlangt nun, dass der Ball der Mittelpunkt seines Fußballverständnisses und somit des Spiels seiner Mannschaft ist – sein Team soll ihn noch Möglichkeit also immer haben (Maxime). Aus dieser Logik der Spielphilosophie heraus ist es nun konsistent, als Reaktion auf dieses konkrete Spielmoment das Gegenpressing als Strategie auszumachen, denn schließlich will man den Ball so schnell wie möglich wieder zurück in den eigenen Reihen haben. Die Strategie des Gegenpressings lässt sich nun sehr kleinteilig in Prinzipien und Sub-Prinzipien unterteilen, die den Spielern einen klaren Katalog an Aufgaben mit an die Hand geben, der unmittelbar umgesetzt werden kann.
Beispiel:
Spielmoment: Umschalten von Offensive auf Defensive
Maxime: Ballbesitz wiederherstellen
Strategie: Gegenpressing
Taktische Prinzipien:
1. Prinzip: Ballnah kompakt zusammenziehen
1.1 Sub-Prinzip: Zustellen des Zentrums
1.2 Sub-Prinzip: Diagonales Anlaufen des Ballführenden
1.3 Sub-Prinzip: Arbeit mit dem Deckungsschatten (je näher zum Ball, desto größer der Deckungsschatten)
2. Prinzip: Gegner auf die Außenpositionen lenken
2.1 Sub-Prinzip: Sub-Prinzipien 1.1, 1.2 und 1.3
3. Prinzip: Gegner zum Rückpass zwingen
3.1 Sub-Prinzip: Sub-Prinzipien 1.1, 1.2 und 1.3
4. Prinzip: Sofortigen Druck gegen den Ball (bei Guardiola: nahe Passlinien schließen, Ballführenden einfach oder doppelt anlaufen)
4.1 Sub-Prinzip: Antizipation eines möglichen Ballverlustes bereits in Ballbesitz
4.2 Sub-Prinzip: Mentale Umschaltbewegung
Diese nun sehr förmliche und auf den ersten Blick komplizierte Gliederung von Handlungsanweisungen ist für die Konsistenz einer Spielphilosophie immanent wichtig, denn die Philosophie eines Trainers stellt sein fußballerisches Weltbild dar, aus dem sich die logischen Folgen für jede konkrete Situation ableiten lassen. Dieses Weltbild muss für die Spieler (besonders im Kinder und Jugendfußball) selbstredend auf ein verständliches Maß reduziert werden. Dabei gilt: Je jünger die Spieler, desto weniger Prinzipien lassen sich explizit vermitteln. Bei einem U10-Spieler würde es also schon reichen, ihm mit auf den Weg zu geben, er solle doch bitte den Ball sofort anfangen zu jagen, wenn er ihn verloren hat. Im Trainingsbetrieb lassen sich diese Verhaltensweisen dann durch die Modifikation von Regeln, Feldern, Bällen,Toren, Spieleranzahl und Anweisungen an die Spieler gezielt erzeugen. Explizit vermitteln kann man dieses fußballerische Weltbild mittels der angesprochenen einfachen „Wenn – Dann“-Merksätzen.
Beispiel:
„Wenn wir den Ball verlieren (Spielmoment), dann müssen wir ihn uns sofort zurückholen (Maxime). Wenn wir also den Ball verloren haben, dann heißt das für uns sofortiges Gegenpressing (Strategie). Damit das funktioniert, müssen wir uns in Ballnähe sofort kompakt zusammenziehen (Prinzip). Um uns kompakt zusammenziehen zu können, müssen wir das Zentrum zustellen, den Ballführenden diagonal anlaufen und klug mit unserem Deckungsschatten arbeiten (Sub-Prinzipien).“
Auf diese Art und Weise lässt sich eine konsistente Spielphilosophie sehr präzise formulieren und somit auch umsetzen.
Folglich ist die Spielphilosophie etwas weitaus umfassenderes, als nur ein einzelner Matchplan, ein System oder Modul, eine Gegneranpassung oder eine Grundordnung und kann auch nicht synonym mit einer dieser Komponenten beschrieben werden.
Weiter untergliedern lässt sich die Spielphilosophie noch in die vier Sub-Begrifflichkeiten, die gerne als Synonyme für eine Spielphilosophie in der fußballerischen Pop-Kultur verwendet werden. Da gibt in der ersten Ebene den „Strategischen Plan“, der, wie der Strategie-Begriff auch schon andeutet, den globalen Projektplan eines Trainers mit seiner Mannschaft beschreibt. Auf welchen Zeitraum dieser Plan angelegt ist, ist höchst individuell und von Trainer zu Trainer unterschiedlich. Während Trainer wie Freiburgs Christian Streich oder auch Heidenheims Frank Schmidt über Jahre im Verein bleiben, hält es andere Trainer (manchmal auch unfreiwillig) nicht allzu lang an einem Ort, weshalb die Perioden den strategischen Plans kürzer ausfallen dürften. Der Plan berücksichtigt sowohl die absoluten Basics (Grundlagen des Spiels, Trainingsmethodik, Technik und technisch-taktische Aktionen), als auch taktische Komponenten (Spielmodelle, Matchpläne, Gegner- und Selbstanalyse) bis hin zum Umfeld einer Mannschaft (Teamgeist, Emotionen, aber auch körperliche Dinge wie Ernährung, Regenration, Rehabilitation, Verletzungsprävention und -behandlung). In der zweiten Ebene gibt es das Spielmodell, dass der spanische Sportjournalist Martí Perarnau ganz treffend als „(…) Werkzeugkasten, den der Trainer seiner Mannschaft zur Verfügung stellt“ beschreibt. Dieses Spielmodell hat einen gewissen Wiedererkennungswert und stellt die grundsätzliche Spielphilosophie eines Trainers in den Kontext der Mannschaft, die er trainiert, und welche Voraussetzungen diese mitbringt. Vergleichen lässt sich das mit einem Komponisten und dem Orchester, welches seine Partitur spielen soll. Die Partitur bleibt dabei gleich. Besteht aber das eine Orchester nur aus Geigern, wird die selbe Partitur vollkommen anders klingen, als wenn sie von einem Orchester gespielt würde, das neben Geigern auch Bläser und Trommler in seinen Reihen hat. Nun bringt der Fußball die interessante Komponente mit sich, dass der Trainer nicht nur Komponist der ursprünglichen Partitur, sondern zeitgleich auch der Dirigent des Orchesters ist. Der Trainer bringt also eine eigene Partitur, die sein altes Orchester bereits (mehr oder minder erfolgreich) gespielt hat, mit zu einem neuen Orchester, dessen Dirigent er nun wird. Dieses Orchester wiederum hat vor seiner Ankunft die Partitur seines Vorgängers gespielt hat und ist mal mehr, mal weniger an diese Partitur angepasst worden. Die Personalunion des Komponisten und des Dirigenten in Person des Trainers ermöglicht es dem Orchester nun am kreativen Prozess des Komponisten teilzuhaben, denn als Dirigent wird dieser erkennen, dass einige Passagen seiner mitgebrachten Partitur schlicht und einfach nicht zum Klang des neuen Orchesters passen. Der Trainer wird also nicht nur anfangen, das Orchester räumlich so umzuorganisieren (im Fußball: z.B. Spieler positionell oder räumlich anders aufzustellen), dass der bestmögliche Klang während des Spielens seiner Partitur entsteht, sondern möglicherweise beginnt er auch damit, Passagen seiner Partitur umzuschreiben, damit sein neues Orchester überhaupt fähig ist, sie zu spielen. Hierbei entsteht unweigerlich ein Annäherungsprozess, der aus Wechselwirkungen der Spielphilosophie des Trainers, individueller und kollektiver Fähigkeiten, dem Charakter des Teams und der fußballerischen Kultur des jeweiligen Landes besteht. Diese Wechselwirkungen erklären, warum zwei Teams aus zwei verschiedenen Ländern niemals gleich spielen werden, obwohl sie der selbe Trainer anleitet. Auf der dritten Ebene gibt es noch – um Thomas Tuchels großartigen Neologismus zu bemühen – die Matchpläne, die das Zusammenwirken aller eben genannten Elemente im Kontext des konkreten Spiels darstellen. Der Gegner hat einen wesentlichen Einflussfaktor darauf, wie rein die Spielphilosophie umgesetzt werden kann und welche Kompromisse dabei eingegangen werden müssen. In der vierten Ebene gibt es das Spielsystem. Hier sind wir wieder bei den „Telefonnummern“, denn es beschreibt die räumliche Verteilung der Spieler auf dem Platz im Ballbesitz und gegen den Ball – ist also den schematischen Grundordnungen klar übergeordnet. Das Spielsystem erfasst nämlich auch taktische Eigenarten wie das halblinke Herauskippen eines Toni Kroos‘ in eigenem Ballbesitz oder das ständige Herausrücken eines zentralen Mittelfeldspielers beim Anlaufen im Angriffspressing aus einem 4-1-4-1 heraus, was letztlich dann ein 4-1-3-2 oder ein 4-4-2 ergibt – je nachdem ob der Sechser vorschiebt oder die äußeren Mittelfeldspieler in die Halbpositionen einrücken. Die fünfte und letzte Ebene beschreibt somit folgerichtig schlicht die schematischen Grundordnungen eines Teams, ohne dabei den konkreten Moment in der Partie zu berücksichtigen. Wenn man also davon spricht, welches System man spielt, dann ist es mehr als ungenau, wenn man nun mit „Wir spielen 4-4-2!“ antwortet.
Die Clubphilosophie & die Ausbildungsphilosophie
„Man spielt, wie man lebt.“
– Xavier Azkargorta
Bolivianischer Nationaltrainer (seit 2012)
Zitat: „Se juega como se vive: Un análisis psicosocial del fútbol profesional“
Sowohl RB Leipzig als auch der FC Barcelona haben nicht nur eine konsistente und konkrete Spielphilosophie. Ihr fußballerisches Weltbild zieht sich auch durch die Praxis, wie sie Spieler ausbilden möchten, welche Spieler überhaupt in Frage kommen und welche menschlichen und sportlichen Werte ihnen mitgegeben werden. Bei beiden Clubs stehen Club- und Ausbildungsphilosophie sogar über der Spielphilosophie des momentanen Cheftrainers. Oder anders gesagt: Der Cheftrainer wird, genauso wie seine Spieler, anhand des Profils, dass sich aus Club- und Ausbildungsphilosophie ergibt, ausgesucht.
Durch sämtliche U-Mannschaften bis hin zu den Profis zieht sich nicht nur eine gemeinsame Spielphilosophie, in denen diese didaktisch nach und nach aufgebaut und vermittelt wird, sondern auch ein gemeinsamer Umgang miteinander. Die Sprache und die Identität der Spieler wird entscheidend mitprägt. Die Clubs schaffen damit einen identitätsstiftender Pakt, dessen Rahmen zwar vom Verein konstituiert und vorgelebt wird, der aber (bei RB Leipzig einmal ausgenommen) historisch gewachsen und in ständiger Entwicklung ist. Dieser Pakt stellt eine Richtschnur dar, die ein für alle geltendes Verhalten festlegt, um ein bestimmtes, übergeordnetes Ziel zu erreichen – den individuellen und kollektiven sportlichen Erfolg. Wenige, rigoros durchgesetzte Verhaltensvorschriften scheinen den Vereinen dabei wichtiger und besser zu sein, als viele, aber locker umgesetzte Regeln. Die Idee, eine identitätsstiftende, kollektive Arbeitskultur für alle handelnden Personen zu schaffen, kommt ursprünglich aus der Wirtschaft und ist unter dem Stichwort „Corporate Identity“ (oder auch „Cooperative identity“) bekannt. In der Wirtschaft ist das Ziel dieser Firmenidentität, nach Außen ein konsistentes, authentisches und ganzheitliches Bild darzustellen. Die Firma ist eine geschlossene Einheit und all ihre individuellen wie kollektiven Handlungen beruhen auf den Eigenschaften eines bestimmten Charakters, da sie eben aus ihrer Identität heraus diesen eigenen Charakter besitzt.
„Corporate Identity ist der Prozess, durch den kulturelle Identität entsteht und weiterentwickelt wird.“ „… wenn die Unternehmenskultur eigenständig, konkret und sinnstiftend ausgeprägt ist und mit ihren Ausdrucksformen eine authentische Ganzheit bildet“
– A. B. Schnyder
Zitat: Zeitschrift: „Führung + Organisation im Jahr 1991“
Von Innen nach Außen entsteht so ein für alle sichtbares Selbstverständnis, welches klare Werte vorgibt. Das hat auf der einen Seite den Vorteil, dass Unternehmen – wie es heutige Fußballclubs nun einmal sind – sehr geschlossen handeln können, auf der anderen Seite aber auch, dass Mitarbeiter sich mit den Werten, dem Charakter und der Identität eines Unternehmens identifizieren und ihr Darsein als Mitarbeiter zum Teil ihrer eigenen, individuellen Identität machen. Diese Identifikation mit dem Arbeitgeber führt dabei wiederum zu einer höheren Leistung, da, wie A.B. Schnyder feststellte, die Arbeit als eine sinnstiftende Tätigkeit begriffen wird.
Auf Fußballclubs bezogen stehen die einzelnen Teamkulturen innerhalb der Mannschaften eines Vereins im Kontext der Vereinsphilosophie, die den Charakter und somit auch den Arbeitscharakter und die Werte eines Vereins definieren, unabhängig davon, welche Spieler nun in diesen Mannschaften tatsächlich spielen. Das sorgt logischerweise für eine gewisse Konstanz innerhalb eines Clubs, denn wie ein Team tickt, resultiert aus einer gemeinsamen inspirierenden Idee und der Vereinsidentität, die kollektive Energien für ein größeres Wohl bündelt. Auf diese Art und Weise entstehen, ob nun von oben gestaltet (wie bei RB Leipzig) oder historisch gewachsen (wie beim FC Barcelona) typische Vereinsmentalitäten unterschiedlichster Ausprägungen, denn auch hier spielt die Kultur und Geschichte eines Clubs wieder einmal eine außerordentliche Rolle. Zum Teil wurde in deutschen Clubs versucht, diese Identitätsstiftung durch Vereinsleitmotive einzufangen („Mia san mia“, „Echte Liebe“, „Wir leben dich“ etc.), ohne dass daraus jedoch konkrete Konsequenzen für Spiel- und Ausbildungsphilosophie der Vereine resultierten. „Corporate Identity“ ja, aber auf dem Platz war oder ist davon jedoch nichts weiter zu sehen. In Barcelona wird und wurde das anders gehandhabt: Die jahrelange Unterdrückung der Katalanen in der Franco-Diktatur hat nicht nur die Rivalität mit Real Madrid bis ins Unermessliche geschürt, es machte den „linken“ Club Barcelona auch empfänglicher für den „linken Fußball“ und die „linke Ausbildungsphilosophie“ des Holländers Cruyff, bei dem alle Spieler alle Aufgaben erfüllten (deswegen der politische Begriff „links“). Eine bemerkenswerte Konsistenz von kultureller Identität der Katalanen, der Ausbildungsphilosophie und Spielphilosophie war die Folge. Bis heute haben Trainer, die in Barcelona anders spielen lassen und sich von den Traditionen des „Total voetbal“ und seiner Weiterentwicklung, dem „Positionsspiel“ entfernen wollen, einen sehr schweren Stand bei Fans und Verantwortlichen. Genau diese Konsistenz in der spielerischen Identität war im Jahr 2008 der Grund, warum der unerfahrene Trainer-Novize Pep Guardiola für die Cheftrainerposition des FC Barcelona dem „Special One“ José Mourinho vorgezogen wurde.
Wie für den Cheftrainer, gilt es auch für die Jugendspieler, dass sie zum Verein passen müssen, und nicht der Verein zu ihnen. Talente werden anhand eines klaren Profils ausgewählt (z.B. bei RB Leipzig athletische Werte) und in einem klaren Stufenmodell zu vollwertigen Mitgliedern des Clubs ausgebildet. Zwecks dessen werden Clubphilosophie und Spielphilosophie auf jede einzelne Stufe des Ausbildungsmodell heruntergebrochen und vermittelt. Wenn ein Spieler nun also von einem Club mit drei konsistenten fußballphilosophischen Konzepten im Kindesalter geholt wird, kann er sich sicher sein, dass sein Verbleib sehr viel mehr von eigenen Leistungen abhängt, als von den handelnden Personen, die sie bewerten müssen. Denn es gibt klare Rahmenbedingungen, die der Club für sich aus seinem Selbstverständnis heraus geklärt hat. Eine Absage nach zwei Jahren, weil man nicht der gesuchte Spielertyp sei, ist somit außerordentlich unwahrscheinlich. Die Ausbildungsphilosophie definiert also, was ein Spieler für Anlagen mitbringen muss, um überhaupt ins Ausbildungsraster zu fallen. Darüber hinaus legt es fest, was ein Spieler bis zu welchem Alter können muss, um die nächste Stufe der Ausbildung zu erreichen. Das gesuchte Spielertypprofil und die Gewichtung der einzelnen Faktoren (z.B. Technik, Athletik, Persönlichkeit, Intelligenz) ist aber das Resultat aus einer Evolution (wie beim FC Barcelona) oder einer Revolution (wie bei RB Leipzig), sprich der Clubphilosophie.
Xavier Azkargorta hat also recht, wenn er feststellt, dass man spielt, wie man lebt. Denn es ist durchaus bemerkenswert, dass Vereine, deren Philosophien (sprich Clubphilosophie, Spielphilosophie und Ausbildungsphilosophie) auf und neben dem Platz einen konkreten Bezug zur Geschichte, den Lebensweisen und der Mentalität ihrer Anhänger und Mitarbeiter haben, meist erfolgreich sind. Jeder halbwegs bewanderte Zuschauer würde erkennen, wenn er den FC Barcelona oder Ajax Amsterdam spielen sieht, auch wenn die Akteure auf dem Rasen andere Trikots tragen würden. Und auch Ragnicks RB-Fußball ist unverkennbar und den Wurzeln des Vereins philosophisch so nah – denn sie spielen ebenso stürmisch, als hätten alle Spieler den ein oder anderen Energydrink zu viel getrunken.
Die Auswirkung der Philosophie auf die Talententwicklung
„I can’t ever imagine not playing for Barcelona, let alone not playing soccer for a career. I don’t ever want to play anywhere else.“
– Xavi Hernandez
Die Clubphilosophie/-identität bietet also den Rahmen für die Spielphilosophie, die wiederum ganz wesentlich die Ausbildungsphilosophie definiert. Es ist nun aber durchaus möglich, dass ein Club eines der drei Charaktermerkmale einer Fußballphilosophie (Clubphilosophie, Spielphilosophie, Ausbildungsphilosophie) oder sogar mehrere Merkmale der drei Charaktermerkmale nicht aufweist. Fehlt eine Clubphilosophie, fehlen beinahe zwangsläufig auch eine Spielphilosophie und somit auch die Ausbildungsphilosophie. Was gespielt wird und wie der Club sich selbst begreift ist somit nur vom Tagesgeschäft abhängig und wenig nachhaltig. Gibt es eine Clubphilosophie, doch ist keine konkrete Spielphilosophie definiert, hat auch das Nachteile. Spieler werden ohne konkrete Spielphilosophie verschiedene prinzipielle Handlungsmuster aufweisen, die eher schlecht miteinander in Einklang zu bringen sind, da inkonsistent trainiert wird. Das schmälert die Leistungen eines Spielers erheblich, da jeder Spieler unterschiedliche prinzipielle Verhaltensweisen mitbringt. Gibt es keine Spielphilosophie, kann nicht in Prinzipien trainiert werden und die Chemie und die Automatismen auf dem Platz leiden. Und schlimmer noch: Gibt es keine Spielphilosophie, ist auch eine Ausbildungsphilosophie nicht sinnvoll definierbar. Geht der aktuelle Cheftrainer oder „wird er gegangen“ und besetzt ein neuer Chef den Trainerstuhl, verschieben sich sämtliche Anforderungen an Spieler, die den Sprung aus der Jugend in die Ligamannschaft schaffen wollen. So passt ein Spieler, der vielleicht noch vom Vorgänger für gut befunden wurde, dem neuen Trainer ganz und gar nicht. Die dritte Option ist, dass es zwar eine Clubphilosophie und eine vom Cheftrainer oder vom Club definierte Spielphilosophie gibt, diese jedoch nicht in eine Ausbildungsphilosophie in der Jugend umgesetzt wird. Auch hier ergibt sich dieselbe Problematik für Jugendspieler, wie wenn es keine definierte Spielphilosophie im Profibereich gibt, da sie nicht zur Kompatibilität mit dieser ausgebildet wurden.
Für Talente macht es also einen erheblichen Unterschied, ob es eine konsistente Fußballphilosophie mit allen Komponenten (Clubphilosophie, Spielphilosophie, Ausbildungsphilosophie) und allen Unterkomponenten gibt, oder ob die Philosophie Inkonsistenzen vorweist. Spieler, die es in ein NLZ geschafft haben, dass ganz klar für sich definiert hat, welche Spielertypen gesucht werden und warum diese gesucht werden (resultierend aus Club- und Spielphilosophie), ist nicht nur viel unabhängiger von persönlicher Förderung, sondern hat auch weniger Druck. Die Anforderungen an die Spieler sind transparent und gleichbleibend, erlernte Verhaltensweisen und Prinzipien bleiben auch in höheren Altersklassen gültig. Das hat den positiven Aspekt für den Spieler, dass der Verein sehr viel eher als „Heimat“ betrachtet wird. Die Identifikation mit den Werten und dem Charakter des Clubs gelingt und die Leistungen steigen. Es ist kein Zufall, dass sowohl bei Ajax, als auch beim FC Barcelona viele Spieler eine ungewöhnlich starke emotionale Bindung zu ihrem Club haben und trotz lukrativer Angebote vergleichsweise lange bei diesem verweilen oder auch wieder zurückkehren. Für diese Spieler ist es „Mes que un club“, wie Barcas Motto treffend lautet, nämlich eine gemeinsame Idee, die verfolgt wird, während andernorts Personen wichtiger als Ideen sind. Wie ein Spieler sein gesamtes Fußballerleben verbringt, hängt nämlich nicht unwesentlich von den Entscheidungen eben jener Personen ab, die ihn trainieren. Trainer treffen für Spieler Entscheidungen hinsichtlich der Position und prägen, je nach Förderzeitraum, Verhaltensweisen auf und neben dem Platz ganz entscheidend mit. Gehe ich ins Dribbling oder spiele ich den Ball ab? Spiele ich sichere Pässe oder traue ich mir das Risiko zu? Bin ich mutig oder zurückhaltend? Halte ich den Ball in den eigenen Reihen oder gehe ich sofort auf das gegnerische Tor? Laufe ich durch oder stelle ich meinen Gegner nur? Rücke ich raus oder bleibe ich drin? Gehe ich auf den ersten Ball oder auf den zweiten Ball? Schieße ich oder gebe ich eine Vorlage? All diese Entscheidungsfragen und noch viele weitere prägen den Spielstil eines Spielers und seinen Erfolg in bestimmten spielerischen Kontexten. Ihre konkreten Beantwortungen sind vom grundsätzlichen Charakter eines Spielers auf der einen, und den immer wiederkehrenden Ausbildungsinhalten seines spielerischen Umfeldes auf der anderen Seite abhängig. Spieler werden augenscheinlich also nicht nur ausgebildet, sondern regelrecht auf bestimmte Verhaltensweisen programmiert – oder auch umprogrammiert. Das bedeutet aber nicht, dass Spieler nun stupide immer und immer wieder die gleichen Verhaltensweisen abspulen, ohne diese zu reflektieren. Ist die Idee eines Clubs, einer Spielphilosophie und der Ausbildung gleichbleibend bzw. sich konsistent weiterentwickelnd, ist der Spieler fähig, innerhalb dieses transparenten Kontextes im Sinne der Clubphilosophie, Spielphilosophie und Ausbildungsphilosophie auf und neben dem Platz selbstständig eigene Entscheidungen zu treffen, da er genau weiß, wie auf seine Entscheidungen reagiert werden wird. Die Aussagen der Trainer sind nämlich genau dann nicht mehr nur situationsspezifisch oder abhängig vom mannschaftstaktischen Kontext, sondern haben einen Allgemeingültigkeitsanspruch innerhalb des Clubs, der auch über Jahre hinwegreicht.
Haben nun verschiedene Clubs verschiedene (konsistente) Philosophien, hat auch das Vorteile für die Top-Talente. Denn nur, weil ein Spielertyp nicht zu einem Club und seinen Philosophien passt, ist er deswegen noch lange vom Grundsatz her ein schlechter oder ungeeigneter Spielertyp im modernen Fußball. Das gleiche gilt somit für den konkreten Spieler: Nur, weil ein Proficlub ihn ablehnt, bedeutet dass nicht, dass er grundsätzlich zu schlecht für einen Proficlub ist. Passt ein Spieler aufgrund der Gewichtung seiner Fähigkeiten also nicht zu RB Leipzig, wird Ajax Amsterdam ihn vielleicht dennoch mit Handkuss nehmen.
Der deutsche Fußball täte also gut daran, sich in der Philosophiefrage zu diversifizieren. Der erste Schritt kann und muss dabei in den Vereinen selbst passieren. Denn nur wenige haben es in Deutschland bisher geschafft, eine Fußballphilosophie von der Konsistenz der Katalanen, Ajax oder der Leipziger zu etablieren. Somit fehlt es Deutschland auch schlicht und einfach an ideologischen Mentoren mit konsistenter Spielphilosophie, die ein klares „Wie“ beschreibt, wie sie andere Fußballnationen in ihren Reihen haben. Ähnlich wie die Doktorväter an einer Universität bestimmen nämlich in großer Wesentlichkeit die Mentoren, wie ihre Schüler später den Fußball selbst sehen. Traineridole mit klaren Spielphilosophien (oder gar ganzheitlichen Philosophien wie Johan Cruyff) bilden den Rahmen für die Schaffenskraft ihrer Nachkommen und beeinflussen somit auch die Schüler ihrer Schüler. Jimmy Hogan beeinflusste nach dem ersten Weltkrieg Josef Blum wesentlich. Blum, der als Aktiver ein Mitglied des österreichischen „Wunderteams“ der 1930er Jahre gewesen war, prägte als Trainer ganz wesentlich seinen Spieler Karl Humenberger in seiner Zeit als Trainer von Racing Straßburg (1936-1938). Karl Humenberger sollte dann in den 1950er Jahren Cruyff-Lehrmeister Rinus Michels trainieren und dessen Sicht auf den Fußball definieren. Der Große Johan Cruyff lernte dann als Spieler beim Bonds-Coach Rinus Michels alles über den „Totalen Fußball“ und brachte sein Wissen nach Katalonien mit. Der Rest der Geschichte es gemeinhin bekannt, denn Pep Guardiola, der unter Cruyff in Barcelona lernte, ist die nächste Ikone, die in dieser historischen Reihe stehen wird. In der Kunst wie im Fußball sind die Schüler sind von ihren Meistern inspiriert und fertigten Kopien von den Bildern derer an, die sie für ihre Meister hielten. Künstler wie Trainer stehen also nie tatsächlich vor einem weißen Blatt Papier, starten nie wirklich bei Null. Und trotzdem fügen sie selbst stets etwas hinzu, werden stets selbst schöpferisch aktiv und schaffen etwas völlig Neues, das doch etwas Altes zu sein scheint, da es so große Ähnlichkeiten mit den Bildern ihrer Meister hat. Bestens verdeutlichen lässt sich das anhand von PSG-Trainer Thomas Tuchel. Tuchel verdankt seinen Durchbruch in den Profifußball zwar letzten Endes dem heutigen Schalke-Manager Christian Heidel, doch in Sachen Spielphilosophie war Tuchel in seinen frühen Mainzer Jahren sehr deutlich von Ralf Ragnick geprägt. Nicht nur ihre gemeinsame Vergangenheit beim SSV Ulm 1846 – Tuchel als Spieler, Ragnick als Trainer – sondern auch die Rationalität, Intellektualität und Akribie, mit denen beide den Fußball arbeiten und leben, verbindet sie sichtbar. Tuchel selbst sagte einmal, dass es Ragnick war, der ihm das ballorientierte Verteidigen beibrachte und es eine absolut prägende Erfahrung für ihn gewesen sei. Doch wie es das Schicksal so wollte, sollte Ragnick nicht der einzige Meister bleiben, dessen Gemälde er zu kopieren er versuchte. Ausgerechnet Pep Guardiola, der philosophische Gegenentwurf zu Ragnick, war es, den Tuchel in seinem Sabattjahr nach seiner Zeit im Mainz immer und immer wieder aufsuchte. Abende lang sollen sie zusammengesessen und über den Fußball diskutiert haben. Tuchel, der jeden Krümel an Wissen, den er finden kann, auf Fußball bezieht, hörte gut zu und lernte vom Katalanen, der in der Ahnenreihe von Hogan bis Cruyff stand. Das Ergebnis dieser neuerlichen Meistersuche ließ sich dann in den folgenden Spielzeiten bei Borussia Dortmund betrachten, wo Tuchel darauf hin Trainer wurde und wo er versuchte, Ragnicks Lehren mit dem Positionsspiel Guardiolas zu vereinigen. Die Entwicklung von Spielphilosophien ist, wie auch Thomas Tuchels verkürzte Mentorengeschichte zeigt, in aller Regel ein evolutionärer Prozess und wie schon der populäre kanadische klinische Psychologe und Professor der Universität Toronto, Dr. Jordan B Peterson, feststellte: „Evolution is a conservative force.“ Was sich bewehrt hat, wird nur dann von etwas Innovativem verdrängt, wenn es auch wirklich effektiver ist und beim Erreichen des „Was“ einen Vorteil bringt. Das „Wie“ spielt somit eine entscheidende Rolle für das „Was“, denn es ist auffällig, dass jene, die sich intensiv mit dem „Wie“ beschäftigen, häufig auch überproportional häufig das „Was“, nämlich den Sieg, davontragen.
Obwohl die Trainerausbildung in Deutschland im europäischen und weltweiten Vergleich hervorragend ist, fehlt es Deutschland trotzdem an Trainern, die den Fußball denken und für die der Sieg nicht das einzige und wahrhaftige Kriterium ist. Trainer, die konsistente Spielphilosophien haben und für sich in Anspruch nehmen, ihre Meister zu übertreffen, metaphorisch also eigene Bilder malen und ihre Schüler inspirieren, eigene „Wies“ in Bezug auf Spiel-, Vereins- und Ausbildungsphilosophie zu entwickeln. Christian Heidel stellte einmal in Bezug auf die Ergebniskrise des deutschen Fußballs um die Jahrtausendwende fest: „Deutschland hatte um die Jahrtausendwende nicht in erster Linie ein ein Nachwuchs-, sondern ein Trainerproblem.“1 Diese Feststellung lässt sich um die Formel erweitern, dass Deutschland heutzutage nicht mehr ausschließlich ein Trainerproblem (gleichwohl es noch besteht), sondern ein konzeptionelles, fußballphilosophisches Problem in den Vereinen selbst hat. Nach der Ergebniskrise um die Jahrtausendwende verpflichtete man die Bundesliga-Clubs von Liga 1 und 2 dazu, die Nachwuchsleistungszentren einzuführen, um das durchlässige Sieb, welches der deutsche Fußball in Bezug auf Talente war, ein wenig engmaschiger zu machen. Zwecks dessen definierte der DFB einen nicht enden wollenden Katalog an zu erfüllenden Kriterien, über deren Einhaltung eine eine externe Firma aus Belgien wacht und die letzten Endes die NLZs anhand selbiger bewertet. Fußballphilosophie, also das „Wie“ auf und neben dem Platz, spielt dabei aber beinahe keine oder eine nur sehr untergeordnete Rolle. Je unterschiedlicher die Vereinsphilosophien dabei wären, desto weniger würde man im Wettbewerb um die immer gleichen Talente stehen und umso vielfältiger in Strategie und Taktik würde sich der deutsche Fußball insgesamt entwickeln, da sich dann das „Wie“ von Verein zu Verein unterscheidet. Dabei bietet es sich an, eine Clubphilosophie aus der Geschichte und der kulturellen bzw. milleuspezifischen Identität des Vereins und seines Umfeldes abzuleiten und anhand dieser die allgemeine Spielphilosophie und Ausbildungsphilosophie in allen Mannschaften des Vereins auszurichten. Was macht uns als Club aus? Warum sind wir so, wie wir sind? Welche Werte verkörpern wir und was ist uns wichtig? Was unterscheidet uns von anderen Clubs außer nur die geographischen Lokalisation? Was unterscheidet unsere Spieler von denen der anderen? Was bedeutet das für unser Spiel auf dem Platz konkret? Und was sagt uns das darüber, wie wir diese Spieler ausbilden müssen, damit sie eben diese Unterschiede ausspielen können? Würde man uns auch auf dem Rasen nur anhand unseres Spiels erkennen, selbst wenn wir andere Trikots tragen würden? Das Resultat wäre wohl, dass in typischen „Arbeitervereinen“ der Fußball eben mehr „gearbeitet“ werden würde, während Clubs aus privilegierteren Umfeldern wohl einen höheren ästhetischen Anspruch hätten und entsprechend ausbilden würden. Fänden die Clubs die verschiedensten Wege zum Erfolg, würde das dem deutschen Fußball einem großen innovativen Vorschub leisten. Bei 36 verschiedenen „Wies“, die alle das gleiche „Was“ erreichen wollen, nämlich den Sieg, wäre der deutsche Fußball nicht nur aufregender, sondern würde auch zwangsläufig durch die verschiedensten Spielertypen bereichert werden. Es wäre ein Weg, um wieder verschiedenste Spielertypen hervorzubringen, statt stets den typischen deutschen Fußballer, der einzig für die Dynamiken kraft betonten Fußballs ausgesucht und ausgebildet wurde. Auch ihn würde es selbstverständlich noch geben, aber er wäre nicht mehr der Monopolist des deutschen Fußballs. Der DFB würde davon profitieren, denn der moderne Fußball verlangt nach Varianten, Diversität und Variationsmöglichkeiten. Der deutsche Fußball würde weniger berechenbar werden, obwohl wenn man weiterhin „typisch Deutsch“ spielen würde. Der letztliche Indikator, ob eine Fußballphilosophie konsequent umgesetzt wird, wird im Geschäft Fußball selbstverständlich das „Was“ sein. Das gebietet die Logik des Geschäfts – Sieg oder Niederlage wird entscheidend sein. Doch die so gegenläufigen Modelle Leipzig und Barcelona, die beide Erfolg haben, beweisen, dass bei konsequenter Umsetzung einer Philosophie, die Clubphilosophie, Spielphilosophie und Ausbildungsphilosophie kohärent in eine Linie bringt, nahezu jede Art und Weise des Fußballspielens Erfolg haben kann. Man muss sich nur trauen. Denn wie sagt das Sprichwort? Wer den Regenbogen sehen will, muss Gefahr laufen, nass zu werden.
1 Zitat: „Die Zeit der Strategen – Wie Guardiola, Löw, Mourinho und Co. den Fußball neu denken“ von Tobias Escher, Seite 213f, Verlag: rororo
Bildquellen: techtag.de // jesus.ch // footyrender.com // coeser.de // kicker.de
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Christian Dobrick arbeitet aktuell als Mitarbeiter des Nachwuchsleistungszentrum für die TSG 1899 Hoffenheim. In der Vergangenheit war er zuletzt als Co-Trainer in der U17 und der U19 von Holstein Kiel tätig. Dobrick ist mit 24 Jahren einer der jüngsten Trainer der U-Bundesligen und blickt auf mehrjährige Erfahrung im Aufbau- und Leistungsbereich in Nachwuchsleistungszentren zurück. Der Sportwissenschaftsstudent ist Inhaber der Elite-Jugendtrainer-Lizenz, Speaker für den SHFV und vielfach zitierte Stimme in Fachbüchern.
