
Mit 18 Jahren galt Sören Ihssen als kommende Nummer Eins im Tor des belgischen Erstligisten KV Mechelen. Zwei Jahre später spielt er in der deutschen Kreisklasse für einen Studentenverein – und ist dabei vollkommen mit sich im Reinen. Was ist passiert auf dem Weg von Belgien nach Deutschland? Eine Spurensuche zwischen Ascheplätzen und Frustbieren.
Donnerstag Abend im Sportzentrum Süd in Heidelberg. Zwischen Sozialwohnungen und dem örtlichen Rugbyverein trainiert die zweite Mannschaft des Heidelberger SC auf einem viel zu großen Ascheplatz. Kunterbunt zusammengewürfelte Trainingshütchen markieren ein Spielfeld mit zwei Jugendtoren. Gespielt wird sechs gegen sechs, rot gegen bunt. Das nasskalte Wetter passt zur Trainingsleistung der größtenteils studentisch besetzten Kickertruppe: kaum eine Passfolge übersteht den zweiten Mitspieler, ob ein Ball mit der Innenseite oder dem Schienbein gespielt wird, ist größtenteils Zufall. Der ramponierte Hartplatz mit seinen Schlaglöchern und Sandhügeln gibt den unbeholfenen Bemühungen der Kreisklasse-Mannschaft den Rest. Nach zehn Minuten steht es noch immer Null zu Null, die gegenseitigen Schuldzuweisungen nehmen Überhand. Einem der beiden Torhüter wird es nun zu bunt: Genervt pflückt er eine Flanke aus der Luft, dribbelt anschließend die gesamte, gegnerische Mannschaft aus und knallt den Ball aus fünfzehn Metern in den Winkel. Sein Gegenüber winkt frustriert ab, die Reaktion seiner Mitspieler schwankt zwischen Anerkennung und Scham über das eigene Unvermögen: der Torhüter als bester Techniker der eigenen Mannschaft – so etwas tut selbst in der Kreisklasse weh. Da hilft es auch nichts, dass es sich um einen ehemaligen Profitorhüter handelt, der kurzerhand seine Karriere an den Nagel gehängt hatte, um in Heidelberg Physik zu studieren. Torhüter bleibt schließlich Torhüter.
„Was willsch mache? Kansch nix mache!“
Einige Zeit später treffe ich Sören Ihssen, den ehemaligen Profitorhüter, nach einem Spiel der ersten Mannschaft gegen einen Heidelberger Vorort. Unmittelbar mit dem Schlusspfiff hat Ihssen das Null zu Zwei kassiert nachdem er bei einem Eckball mit nach vorne geeilt war. Sein Offensivdrang war diesmal nicht erfolgreich, dafür hat er vor dem eigenen Kasten gehalten, was zu halten war. Und noch einiges mehr. Linke Faust, rechte Hand, Fußabwehr – als gegnerischer Stürmer muss man sich dabei bisweilen vorkommen wie im falschen Film. Lediglich bei dem Treffer zum Null zu Eins war er machtlos. So deute ich es zumindest aus der Reaktion der knapp zwei Dutzend Zuschauern. „Was willsch mache? Kansch nix mache!“ kommentiert ein älterer Herr auf dem Weg zur Toilette den Gegentreffer. Ihssen selbst sieht dies ein wenig anders, einem Kopfschütteln folgt ein lautes „Fuck!“ des hühnenhaften Torhüters. Haltbar? Für einen Torwart seines Kalibers definitiv.
Angesprochen auf seine Trainingsperformance einige Wochen zuvor, muss Ihssen grinsen: „Klar, so etwas macht Spaß. Man kann das natürlich nicht mit dem Training in Mechelen vergleichen. Einfach mal den Ball schnappen und ein bisschen kicken – das ging früher nicht.“ Früher, das ist gerade einmal zwei Jahre her. In dieser Zeit war Ihssen der dritte Torhüter des KV Mechelen, hinter Stammtorhüter Wouter Biebauw und dem Torhüter der mazedonischen Nationalmannschaft, Tome Pacovski. Ihssen war damals gerade einmal 17, seine beiden Konkurrenten fast doppelt so alt wie er. „Am Anfang war ich für sie ‚der Kleine‘. Nach einer Weile haben sie mich dann mehr und mehr als Konkurrenz gesehen. Es war schon zu spüren, dass sie Angst hatten, ich könne ihnen den Platz wegnehmen – zumal beide nicht mehr die jüngsten waren.“ Überhaupt war das Verhältnis zu seinen Mitspielern eher schwierig, wie Ihssen gesteht: „Ganz ehrlich? Ich bin damals mit den Leuten im Verein einfach nicht so recht klargekommen. Die meisten waren ja deutlich älter als ich, hatten Kinder und Familie. Dazu kam die sprachliche Barriere. Flamen, Franzosen, Osteuropäer – da fiel mir oft schon die alltägliche Kommunikation schwierig.“
Nie mit Großkreutz am Schellenbaum gerüttelt
Wenn er über seine Zeit als Profi spricht, wirkt Ihssen nüchtern, sachlich, nahezu ein wenig gelangweilt. Fast beiläufig erzählt er, wie er damals als Spieler des belgischen Drittligisten Whitestar Bruxelles das Angebot aus Mechelen bekam. „Ich habe mir gedacht: ‚Naja, dann probiere ich das halt jetzt mal eine Zeit lang aus.’“. So, als wäre es für einen Siebzehnjährigen das normalste auf der Welt, zu einem Verein in die erste Liga zu wechseln: morgens holt man Brötchen, mittags unterschreibt man einen Profivertrag und abends löst man den Nahost-Konflikt. Genauso unspektakulär gestaltete sich für ihn dann auch der Trainingsalltag. „Montags und dienstags war ich morgens um acht auf dem Vereinsgelände, habe zwei mal trainiert und den restlichen Tag die Zeit totgeschlagen. Mittwochs hatte ich frei, donnerstags und freitags haben wir meist nur halbtags trainiert. Das war alles recht eintönig.“ Und dann? Wenigstens ein wildes Profileben außerhalb des Platzes? Mit Kevin Großkreutz um die Häuser gezogen und in Discotheken kräftig am Schellenbaum gerüttelt? „Nicht wirklich. All meine ehemaligen Klassenkameraden sind nach der Schulzeit weggezogen, zum Studieren oder für eine Ausbildung. Da ich noch zuhause gewohnt habe, habe ich die Abende in der Regel mit meinen Eltern verbracht“ antwortet Ihssen und fügt grinsend hinzu: „Wie man das halt so macht als Heranwachsender.“
Genervt in der Sauna
Mittlerweile hat sich der Sportplatz weitestgehend geleert, die wenigen Zuschauer sind schon längst der baulichen Tristesse des Geländes aus den 1960ern entflohen. Im Kabinentrakt des Vereinsheims leisten die ersten Frustbiere deutlich vernehmbar gute Arbeit. „So etwas gab es in Mechelen nicht“ seufzt Ihssen. „Dass man nach den Spielen noch zusammengesessen oder in die Stadt gefahren ist. Dort hat jeder sein eigenes Ding gemacht. Wenn wir mal gemeinsam in die Sauna geschickt wurde, waren viele eigentlich nur genervt.“ Ihssen schaut zu einer Gruppe Spieler, die in Trainingshosen vor dem Clubgebäude stehen und gar nicht erst versuchen, ihre Zigaretten vor dem Trainer zu verstecken. „Wenn wir hier mal in die Sauna gehen, nehmen wir dabei fast den ganzen Laden auseinander.“ lacht er, bevor seine Miene plötzlich wieder ernst wird. So, als sei ihm gerade noch einmal bewusst geworden, dass er drauf und dran war, einen Großteil seiner Jugend zu verpassen. Für eine Karriere, die er eigentlich nur mal „ausprobieren“ wollte.
Es wird langsam dunkel. Der kühle Abendwind ruft dem Keeper zunehmend ins Gedächtnis, dass es noch nicht die passende Jahreszeit ist, um am Spielfeldrand in kurzen Hosen ein Interview zu führen. Nervös schielt Ihssen immer wieder in Richtung der warmen Umkleidekabinen. Und auch wenn er die Antwort darauf schon längst gegeben hat, stelle ich ihm abschließend doch noch die Frage, ob er die Entscheidung gegen die Profikarriere zumindest hin und wieder bereue. „Nein, eigentlich nicht.“ Eigentlich? „Naja. In den Prüfungsphasen an der Uni denke ich vielleicht schon mal ab und zu an das entspannte Leben in Mechelen. Das Physikstudium kann mitunter doch ziemlich stressig sein.“ Er lächelt kurz, dann packt er seine Handschuhe und macht sich auf den Weg in die Kabine, wo auf ihn noch die eine oder andere Nachspielzeit wartet. Und mich überkommt die Vermutung, dass er heute nicht mehr allzu viel Zeit in sein Physikstudium stecken wird. Schließlich ist er mittlerweile endlich angekommen. In einem richtigen Studentenleben in Heidelberg.
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Christoph Rehm bringt viel Erfahrung ins Talentkritiker-Team. Der 35-Jährige arbeitet als freier Journalist bereits seit mehr als 10 Jahren für verschiedene Online- und Printmedien und ist glühender Anhänger vom 1.FC Köln. Als U12-Cheftrainer arbeitet Rehm zudem für den SV Sandhausen und trainierte in der Vergangenheit zahlreiche Frauen-und Juniorenmannschaften. Seit 2016 im Kritiker-Team.
