
Julian Nagelsmann, den mittlerweile ja jeder kennt, war dann wohl der berüchtigte Meilenstein. Bevor der Trainer von 1899 Hoffenheim zu eben jenem wurde, lag es zwar auch schon längere Zeit sehr im Trend, junge Männer zu Cheftrainern im Profifußball zu machen, aber so richtig eingeschlagen ist keiner – jedenfalls nicht so unwiderstehlich und kompromisslos, wie es Nagelsmann seit Februar 2016 bei der TSG tut, fast wöchentlich. Der 29-Jährige, der vor einigen Jahren durch die Profifußballbrille noch als gescheitert gesehen werden konnte – Knorpelschaden und Karriereende, ohne überhaupt den Durchbruch geschafft zu haben – wird jetzt nicht nur in der Hyperboliker-Welt der Fußballmedien, sondern auch aus der Branche selbst als ,,heißeste Aktie auf dem Markt“ bezeichnet. Dieser Aufstieg führt einerseits dazu, dass sehr junge Trainer nicht mehr als Wagnis, sondern als Versprechen angesehen werden, andererseits macht er Vielen natürlich Hoffnung auf die große Karriere. Immer mehr Aspiranten strömen auf den Markt. Einer davon ist Domenico Tedesco, der einst nur Kreisliga spielte und jetzt, zwei Jahre älter als Nagelsmann, die zweite Liga aufmischt. Dass sich der Markt öffnet, ist gut und der Entwicklung des Fußballs förderlich. Die Geschichte von Tedesco, der einige Hindernisse auf seinem Weg überwinden musste, zeigt aber, dass nicht jedem Tür und Tor offen steht. Wie er es zustande brachte, sich trotzdem durchzusetzen, zeigt eine Analyse des Trainers, aber auch des Menschen Domenico Tedesco.
Aus der Lakritznische
Geboren wurde Tedesco in Rossano, einer italienischen Stadt am Ionischen Meer – 32.000 Einwohner, Hauptwirtschaftsbranche neben der Landwirtschaft: die Lakritzindustrie. Die Rossanesi wirtschaften also sozusagen in einer Nische, die es kein zweites Mal geben dürfte – es liegt jetzt natürlich journalistisch nahe, den Bogen zu Domenico Tedesco zu schlagen. Ist auch gar nicht so schwer. Tedesco wuchs bei Stuttgart auf, kickte ein bisschen in der Kreisliga, studierte, um Wirtschaftsingenieur zu werden. Dann fing er an, nebenbei als Co-Trainer für die U8 beim VfB Stuttgart zu arbeiten – und merkte, dass ihm das nicht nur Spaß macht, sondern dass er auch ein Händchen für diese Trainersache besitzt. Und so konzentrierte sich Tedesco immer mehr auf den Fußball, mittlerweile hat er es hier zu bundesweiter Beachtung gebracht. Und während Julian Nagelsmann zumindest in den Zweitvertretungen von namhaften Clubs aktiv war, ist Tedescos eigene fußballerische Vergangenheit weniger erwähnenswert, was den Grundstein für eine Nischenkarriere legt. Eine Nischenkarriere, der sich nun immer mehr junge, ehrgeizige Trainer bedienen wollen, dabei aber oft übersehen, dass ein Aufstieg wie der Tedescos nicht über Nacht geschieht.
Domenico Tedesco merkte das vor etwa zwei Jahren sehr deutlich, als er es in Stuttgart zwar schon sehr weit gebracht hatte, mit der U17 des VfB erfolgreich war, dann aber Rainer Adrion gegen sich sah. Der damalige Jugendkoordinator, auch während seiner Zeit beim DFB alles andere als unumstritten, behandelte Tedesco ignorant, wie auch die Stuttgarter Nachrichten damals berichteten. Tedesco nahm das hin, blieb loyal und äußerste sich niemals negativ, merkte aber dann doch recht deutlich, dass man es als Aufsteiger ohne viele Freunde gar nicht so leicht hat in der Fußballbranche. Sein Glück (oder Vorteil) war, dass er eben äußerst talentiert ist. Die TSG 1899 Hoffenheim, die selbst als ehemaliger Aufsteiger Persönlichkeiten wie Tedesco offener gegenüberstand, erkannte den Wert Tedescos und holte ihn 2015 für die A-Jugend, wobei sie ihm anfangs noch ermöglichte, den Fußballlehrer zu machen, übrigens gleichzeitig mit Nagelsmann. Größter Fürsprecher Tedescos war damals Nachwuchsleiter Dirk Mack, der ihn zuvor beim Württembergischen Fußballverband kennenlernte – Mack war zu jenem Zeitpunkt Tedescos Ausbilder für die ersten Trainerlizenzen. Der 48-Jährige, der selbst “nur“ Oberliga spielte und mit Arbeitsstellen in Kuala Lumpur, China, Südafrika und den USA durchaus als weltoffen zu bezeichnen ist, begegnete Tedesco unvoreingenommen und lernte ihn zu schätzen. In der U19 Hoffenheims bestätigte der Jungtrainer das Vertrauen, leistete gute Arbeit und absolvierte nebenbei den Fußballlehrer mit 1,0 als Jahrgangsbester. Der interne Aufstieg bei der TSG wäre ihm gewiss gewesen, doch einerseits verzögerten Nagelsmann und seine Assistenten um Alfred Schreuder und Matthias Kaltenbach diesen unweigerlich und einfach deshalb, weil sie erfolgreich arbeit(et)en. Andererseits kam da dieses Angebot aus Aue genau richtig; die Verantwortlichen um Präsident Helge Leonhardt witterten die Chance, einen guten Fang zu machen. Domenico Tedesco brachte Aue seitdem wieder dick ins Geschäft, das Abstiegsrennen ist besonders nach dem Heimerfolg über den TSV 1860 extrem offen. Woran liegt das?
Gier eines Chamäleons
Die Süddeutsche Zeitung zitiert Dirk Mack mit “gierig“, wenn dieser über Tedesco spricht. “Gierig“, das ist ein hartes Wort, Mack hätte ja eigentlich auch “ehrgeizig“ oder “hungrig“ verwenden können – hat er aber nicht. Und diese Gier, von der er spricht, ist keinesfalls abwertend gemeint, sondern vielmehr eine Art des Hut-Ziehens. Tedesco hätte in seiner Ausgangslage diesen Weg nämlich nicht gehen können, wenn er vor Gier übermütig, blind oder gar größenwahnsinnig geworden wäre. Die Gier, von der Mack spricht, brachte Tedesco dazu, sich gekonnt in Szene zu setzen und hart zu arbeiten. Gekonnt in Szene setzen, das heißt, seine scheinbar ungünstige Ausgangslage für sich selbst auszunutzen und ein Bild von sich zu zeichnen, das ihn smart, selbstbewusst und kompetent erscheinen lässt.
So begehrte Tedesco etwa nicht auf, als ihn in Adrion ein Vertreter der sattelfesten Eliten im Profifußball links liegen ließ, sondern strafte dessen Nichtbeachtung mit charmanter Ruhe, welche Adrion selbst letztendlich in ein Licht rückte, das ihm einiges an Kritik bescherte. Diese Art bescherte Tedesco zunächst bezüglich seiner Karriere dort eklatante Vorteile, wo er diese Gier letztendlich auf die andere Seite projezierte – im ehrgeizigen Helge Leonhardt weckte er so ja eine nicht übersehbare Begierde, die sich visuell sehr schön auf dem offiziellen Begrüßungsfoto äußerte. Leonhardt hat hier den Arm um Tedesco gelegt und zeigt ein halbseitiges, also ein nicht zu emotionales Gewinnergrinsen, das aussagt: ,,Freunde, schaut doch mal, was ich wieder für einen tollen Fang gemacht habe!“. Und Tedesco? Zeigt exakt das gleiche Grinsen, sagt also: ,,Für einen jahrgangsbesten Fußballlehrer wie mich gibt es ja nichts Geileres als Aue, Helge Leonhardt und Abstiegskampf zweite Liga.“So ist ihm die unverrückbare Sympathie des mächtigsten Mannes im Verein sicher, Chamäleon-Effekt par excellence. Als Tedesco sich das erste Mal an die Aue-Fans richtet, beginnt er mit ,,Glück auf!“ und macht sich so mit seinen ersten Worten zu einem von ihnen.
Dieser Wesenszug Tedescos findet sich auch in seinem fußballerischen Erfolgsrezept wieder. Grundsätzlich steht er auf dem Platz für eine taktische Herangehensweise, die besonders bei einer sportlich nicht herausragenden Mannschaft heutzutage unabdingbar ist: er verkörpert äußerste Flexibilität und hohe Kompromissbereitschaft. Nach dem wichtigen Heimerfolg über den TSV 1860, der mit 3:0 ja doch sehr deutlich ausfiel, erzählte Gasttrainer Vitor Pereira nach einem knappen Gratulationswort an Tedesco, dass seine Mannschaft eigentlich viel besser gewesen wäre und das Endergebnis nur durch eine Schiedsrichterentscheidung (Strafstoß und Platzverweis in der 42. Minute) zustande gekommen wäre. Und auch wenn er nicht so Unrecht hatte, hätte Tedesco ohne jegliche Überheblichkeit erzählen können, dass Aue mit 3:0 verdient gewonnen hatte, da man einfach cleverer und effektiver gewesen war. Doch was machte der junge Mann? Bedankte sich erst einmal höflich bei Pereira, auf Portugiesisch. Und dann pflichtete er diesem in allen Punkten bei. Hierdurch erweckte er aber nicht den Eindruck, schleimen zu wollen oder selbst keine Erklärung zu haben, sondern er wirkte einfach nur respektvoll und realitätsnah; er stand seinem Kontrahenten Meinung und Kompetenz zu, ließ aber am Ende nur eine einzige mögliche Schlussfolgerung übrig: Tedesco ist als Sieger vom Platz gegangen, Tedesco hat letztendlich die besseren Entscheidungen getroffen. ,,Das Wichtigste ist es, Entscheidungen gut zu erklären“, erzählt Tedesco der Süddeutschen Zeitung. Und das ist genau der Punkt: Domenico Tedesco gibt den Menschen, mit denen er arbeitet und interagiert, das Gefühl, ihn durchblicken zu können. So auch in taktischer Hinsicht. Als ehemaliger Kreisligaspieler ist der Deutschitaliener keiner, der seine Spieler von oben herab behandelt oder kein Verständnis für fußballerische Fehler hätte, vielmehr ist er Partner seiner Spieler, der ihnen nichts vorgaukelt oder -exerziert. Tedesco spricht nicht vom ultimativen Spielsystem, von der allseits besten taktischen Lösung, er ist mobilisiert seine Mannschaft im Abstiegskampf nicht durch monströse Motivationsreden. Er agiert mit den Spielern auf Augenhöhe, erklärt Ihnen Spiel und Gegner und gibt ihnen einen gemeinsamen Lösungsvorschlag an die Hand. Und das macht er so geschickt, dass ihm die Spieler genauestens zuhören und seine Vorschläge auf dem Feld mit Leib und Seele umzusetzen versuchen. Sehr passend hierzu ein Zitat Tedescos aus seiner ersten Pressekonferenz, als er nach seiner Philosophie gefragt wird:
,,Es ist für mich enorm wichtig, die Mannschaft und die Spieler in den Vordergrund zu stellen. Eine klare Idee zu haben, ist schön und gut. […]. Wichtig ist, dass wir uns aufgrund der Qualität der Spieler, wie die Spieler Fußball spielen können, wie sie Fußball spielen möchten, strategisch positionieren. Das ist eine Stellschraube. Die zweite Stellschraube ist immer der Gegner.“
Dabei darf nicht vergessen werden, dass dieser Stil nur von Erfolg gekrönt ist, weil Tedesco über herausragendes taktisches und fußballerisches Wissen verfügt, was einerseits mit Talent, vermehrt aber mit harter Arbeit zusammenhängt. Der bestmögliche Abschluss an der Fußballlehrer-Akademie kommt nicht von ungefähr: Tedesco ist immer bestrebt, auf alles eine Antwort zu finden, eine Lösung zu haben. Dabei scheut er taktisch und personell keine Maßnahmen, er stellt um, wo nötig ist, getrieben von der Gier nach Erfolg. Tedesco ist ein Chamäleon, sehr anpassungsfähig, das sich Spieler und Umfeld zu Nutze macht, indem es sich nach den Umständen richtet.
Und das klappt, weil er seine Entscheidungen eben transparent macht, seine Ziele zu denen der Mannschaft. Kreis geschlossen.
Nicht die letzte Pose
Die fußballerische Zukunft von Domenico Tedesco zu prognostizieren, wäre an dieser Stelle einerseits extrem schwierig, aber auch unbrauchbar. Nach der hoffentlich brauchbaren Analyse ist es viel spannender, seinen Werdegang unvoreingenommen zu verfolgen, gegebenenfalls zu bewerten und die Spannung aufrecht zu erhalten. Im Fußball ist nichts planbar, der Zufall kann nie ausgeschlossen werden, das weiß auch Tedesco selbst. Am besten läuft es immer dann, wenn die anderen Erfolgsfaktoren so stabil gestaltet sind, dass dem Zufall im großen Ganzen gesehen nicht viel Einfluss zugestanden wird. Und hier hat Tedesco gute Karten, ist er doch A) ein Trainer, der durch seinen Karriereweg das Fußballerische stets unvoreingenommen, flexibel und kompromissbereit bewertet und durch sein großen Kompetenzen über zahlreiche Möglichkeiten für Problemlösungen verfügt, bei deren Findung und Gestaltung ihn seine Erfolgsgier antreibt. Und B) ist er ein Mensch, der sich durch ein vorbildliche Arbeitsdisziplin und eine sehr hohe emotionale Intelligenz auszeichnet, die er sich sehr gekonnt zu Nutze macht. Mit diesen Bausteinen im Hinterkopf sei zumindest so viel gesagt: Helge Leonhardt wird nicht der letzte sein, mit dem Domenico Tedesco auf einem Foto posiert hat.
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Lukas Brandl ist U13-Cheftrainer im NLZ des SV Wacker Burghausen. Der B-Lizenz-Inhaber studiert Bildungswissenschaften und begeistert sich für die Vielschichtigkeit des Fußballs aus Spieler- und Trainerperspektive. Für den dienstältesten Talentkritiker besitzen Individualität und Differenziertheit bei Aspekten der Potentialentfaltung einen hohen Stellenwert.
